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"Die Kinderzüchterin"

Die italienische Ärztin Maria Montessori gilt als Pionierin der Reformpädagogik. Ein neues Buch entlarvt sie als Anhängerin von Eugenik und Rassenkunde. Wie böse war die Dottoressa?

ANALYSE: MATTHIAS DUSINI Falter Nr.13/24 27.März 2024

An Mussolini und Hitler schätzte sie, dass diese "Führer" den Wert einer neuen Erziehung erkannten. Die Pädagogin Maria Montessori pries die Hitlerjugend und deren italienische Variante Balilla: "Sie gaben den Kindern ein Ideal, das vereinte." Montessori schrieb diese Zeilen 1949, als die Verbrechen der Diktaturen längst bekannt waren.

Montessori gilt bis heute als Star bunter Pädagogik. In den nach ihr benannten Schulen gibt es keinen Drill, die Kinder sollen ihre Anlagen ohne Benotung entfalten. Das Konzept ging von der römischen Casa dei bambini (Kinderhaus), in der Montessori 1907 tätig war, um die Welt.

Der aktuelle Spielfilm "Maria Montessori" hält sich ans gängige Bild und erzählt eine Emanzipation. In eine bürgerliche Familie hineingeboren, studierte Montessori (1870-1952) in Rom Biologie und, als eine der ersten Frauen überhaupt, Medizin. Der Film vermittelt ein privates Drama. Nachdem die Ärztin von einem Kollegen ein Kind bekommen hatte, schob sie den Sohn aus Angst vor einem Skandal in eine Pflegefamilie ab.

Der Plot spielt in der frühen Zeit, als Montessori in der Psychiatrie erste Erfahrungen sammelte. Man sieht, wie sie sich um vernachlässigte Kinder kümmert, die sich in selbstbewusste Wesen verwandeln. Die Erkenntnisse flossen in das 1909 erschienene Werk "Il metodo della pedagogia scientifica" ein, das sie schlagartig berühmt machte. Ihr Charisma verzauberte: "Sie wirkte mütterlich, sehr gütig. Sie hatte schöne dunkle Augen. Für uns kam sie gleich nach dem lieben Gott", erinnert sich ein Zeitgenosse. So weit, so fragwürdig.

Mythos Mutti

Zumindest wenn man den Recherchen der Salzburger Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter glaubt, die den Mythos hinterfragt. Als Montessori 1907 die wissenschaftliche Leitung der Casa dei bambini übernahm, schlug sie einen weniger putzigen Namen vor: "Labor für das Studium der kindlichen Entwicklung." Als Biologin lehnte sie die gängige Bezeichnung Pädagogin ab.

Montessori dachte auch nicht an den Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, der das Ideal einer Entfaltung natürlicher Begabungen propagierte. Sondern an Charles Darwins Evolutionstheorie, die sie als Anleitung zur Entwicklung einer "höheren Rasse" verstand. Nach dem Medizinstudium besuchte Montessori Kurse in Anthropologie und schrieb in der 1910 erschienenen "Antropologia Pedagogica": "Das biologische Ideal ist die Vision der perfekten Menschheit." Seichter nennt es ihr Hauptwerk. Montessori verknüpft darin "Rasse" mit Moralität: dem brachyskelen (kurze Beine, langer Rumpf),"gewalttätigen Mongolen" stellte sie mithilfe eindrücklicher Abbildungen den makroskelen (lange Beine, kurzer Rumpf),"schmarotzenden Tasmanier" gegenüber. Die triumphierende "Rasse" hingegen zeichne sich durch die Harmonie aller Körperteile aus, wie sie in der klassischen Antike zu finden sei.

Tierische Menschen

Die Anthropologen vermaßen damals Menschen und fassten die Merkmale in Klassen -"Rassentypen" - zusammen. Nach den Prinzipien der Vererbungslehre zeichneten sie Entwicklungslinien: ganz unten die "primitiven" Afrikaner, oben die "edlen" Weißen. Die Forscher übertrugen außerdem das Selektionsgesetz von Tieren und Pflanzen auf Menschen: Jene Lebewesen vermehren sich erfolgreich, die sich am besten an die Lebensbedingungen anpassen. Dieser "Kampf ums Dasein" hatte ein klares Ziel: "die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Thiere"(Darwin).

Im Jahr 1905, kurz vor der Eröffnung der Casa dei bambini, tauchte Montessori in die Praxis ein. Da führte die 35-Jährige eine anthropologische Untersuchung an Frauen in Roms Hinterland Latium durch - von den Zehen über die Brustwarzen bis zu den Haarspitzen: "Unser Gefühl gegenüber dem Hässlichen ist Abscheu, biologischer Schmerz."

Die Montessori-Gemeinde ignoriert "Physische Merkmale der Frauen aus dem Latium". Für Seichter hingegen formulierte die Italienerin hier Grundgedanken, die sie auch später nicht revidierte. "Geblendet von dem Phantombild körperlicher und moralischer Normalität, wird es für Montessori fortan kein (erzieherisches) Handeln ohne Kenntnis der Biometrie des Kindes geben." Montessoris Denken kreise um die Frage: Was kann man tun, um "anormale" Menschen zu verhindern und "normale" herzustellen. Seichters Interpretation lässt sich so zusammenfassen: Ohne Montessoris genaue Kenntnisse einer heute als wahnhaft geltenden Rassenlehre lässt sich ihre Pädagogik nicht verstehen. Es gehe ihr darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich der genetische Bauplan optimal entfaltet. Statt von Erziehung sollte mithin von Entwicklung gesprochen werden. In der Überlieferung werde diese dunkle Seite ausgeblendet: "Die meisten Darstellungen beschränken sich auf eine pseudo-biografische Heldinnenverehrung weitab von nüchterner Theorieanalyse."

Als Mussolini 1922 die Macht übernahm, plante er eine neue Schule für den faschistischen Menschen -und erkannte den Wert von Montessoris Lehren. Handelt es sich, wie ihre Fans behaupten, lediglich um einen opportunistischen Schwenk, dass Montessori auf sein Angebot zunächst einging? Folgt man Seichters Argumentation, lässt sich eine Wesensverwandtschaft feststellen: die Züchtung einer überlegenen, mediterranen "Rasse" als Staatsdoktrin.

Am Ende der Studie bricht Seichters Empörung durch. "Es kann davon ausgegangen werden, dass Montessoris Ausführungen zu Erbbiologie, Selektion und Perfektionierung bis heute von ihren Anhängern geteilt werden; denn ohne jene Voraussetzungen ist Montessori nicht zu haben." Stimmt das?

"Natürlich sind wir gegen rechtes Gedankengut", beteuert Saša Lapter, Leiter einer kleinen Montessori-Schule im ersten Bezirk. In Österreich gibt es etwa 60 Einrichtungen und rund 2500 Schülerinnen und Schüler. Als er die Artikel über Seichters Buch las, blätterte Lapter in seinen Montessori-Büchern und kam für sich zur Einschätzung: "Kein Zweifel, die Zusammenarbeit mit Mussolini war falsch. Aber man muss schon mutwillig sein, um aus Montessori eine Rassistin oder Faschistin zu machen."

Um zehn Uhr steht Kochen auf dem Lehrplan. Nach dem Essen um halb zwei "Textiles Werken" und schließlich der "Literaturkreis". Lapter, ein freundlicher Mittfünfziger mit Dünnrandbrille, führt durch die Räume. "Wir versuchen die Lehren Montessoris möglichst authentisch umzusetzen", sagt der studierte Physiker. Das von Seichter beschriebene Weltbild meint er damit dezidiert nicht.

Küche und Kosmos

Als seine Tochter auf die Welt kam, suchten Lapter und seine Frau nach einem passenden Kindergarten. In einem Park bemerkten sie eine spielende Gruppe, und es gefiel den beiden, wie die Betreuer mit den Kleinen umgingen. So hörten sie zum ersten Mal den Namen Montessori. Nachdem sie das bestehende Angebot geprüft hatten, beschlossen sie, eine eigene Einrichtung zu gründen. Seit 2010 betreiben die Lapters nun die Montessori-Schule im Heiligenkreuzerhof. Sie unterrichten aktuell 19 Kinder. Das jüngste ist sechs, das älteste zwölf. Da der Staat Alternativschulen kaum unterstützt, fallen die Gebühren hoch aus. Die Eltern der Kinder zahlen für die Ganztagsschule zehnmal im Jahr 790 Euro.

Wenn andere Kinder in der ersten Klasse das Alphabet malen, schreiben Montessori-Schüler bereits "Lithosphäre"(Erdkruste). Montessori war der Auffassung, dass der Wissensdurst in den ersten Schuljahren am größten sei. Die Sechsjährigen beschäftigen sich mit "kosmischen Zusammenhängen": geophysikalischen Erklärungen zur Entstehung der Erde. "Auch wenn die Kinder die Begriffe noch nicht vollständig verstehen, irgendetwas bleibt immer hängen", erläutert Lapter.

Montessori griff auf ein entwicklungspsychologisches Modell zurück. In den ersten Jahren sauge das Kind intuitiv alles auf, etwa Lesen und Schreiben, zwischen sechs und zwölf sei es besonders empfänglich für faktenbasiertes Wissen.

"In Regelschulen wird immer noch nach einem Schema unterrichtet, das größtenteils aus der Zeit Maria Theresias stammt", kritisiert Lapter. "Der Lernstoff passt oft nicht zur Entwicklungsstufe." An der Wand des Esszimmers hängt der Speiseplan: "Mittwoch: Rote-Linsen-Suppe." Die Kinder kehren, kochen und servieren, das fördert die Motorik.

Das Prinzip heißt Selbsttätigkeit. Die Kinder sollen sich möglichst selbstständig beschäftigen, sodass sie zur Aufgabe einen persönlichen Bezug aufbauen. Der Lehrer führt ein, moderiert und lässt Unterschiede zu, etwa zwischen den besonders Begabten und den eher Langsamen. Das berühmte Montessori-Material liegt griffbereit in Regalen. Mithilfe von Klingeln lernen die Kinder, Töne zu unterscheiden. Und da, der Klassiker: Kindergartenkinder sollen Zylinder in die dafür vorgesehenen Öffnungen stecken. Intuitiv erfassen sie so Größenverhältnisse.

Dieses Gerät war ein Schlüsselerlebnis Montessoris. In der Casa dei bambini beobachtete sie ein dreijähriges Kind, das sich in die Tätigkeit vertiefte und die Umwelt vergaß. Sie nannte diesen für das Lernen entscheidenden Flow "Polarisation der Aufmerksamkeit". Handys haben bei Lapter nichts zu suchen, doch der Teufel der Ablenkung hat ein neues Einfallstor gefunden, die Smart Watches: "Da muss ich mir eventuell etwas überlegen." Der Rundgang vermittelt den Eindruck einer sympathischschrulligen Schule, die versucht, Intellekt und Kreativität zu wecken.

Glauben und Gehorchen

Die entscheidende Frage ist damit aber noch nicht beantwortet. Wie kam es dazu, dass Montessoris Züchtungsfantasie als antiautoritäres Modell verstanden wird? Die einseitig positive Rezeption geht auch auf Montessori selbst zurück. Sie ersetzte die harten biologischen Begriffe in ihren Vorträgen durch religiöse Metaphern etwa vom "heiligen Kind". In ihren Büchern ist viel von Liebe und Frieden und nicht von Rassenhass oder Antisemitismus die Rede. Die Zeitgenossen nahmen sie als Frauenrechtlerin wahr, die mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde.

In der ganzen Welt fand sie Verbündete. In Wien gründete Eugenie Schwarzwald bereits 1901 die Schwarzwaldsche Anstalt, die das kreative Potenzial der Kinder förderte. Ein weiterer Pionier alternativer Pädagogik, der Wiener Franz Čižek, lehrte in seiner Jugendkunstklasse ohne Zwang. 1926 kam Montessori nach Wien und übernahm Elemente von Čižeks Methode. Wenige Jahre später besuchte sie einen 1930 eröffneten Kindergarten, den der Architekt Franz Schuster am zentralen Rudolfsplatz errichtet hatte.

Die bewusst unscharfe Rhetorik diente auch dazu, Förderer zu finden. In Österreich dockten Montessori-Einrichtungen sowohl an die katholische Kirche als auch an die Sozialdemokratie an. Zugleich erhoffte sie sich die Anerkennung ihres Systems durch den faschistischen Staat. Wer wollte, konnte bei ihr auch autoritäre Stellen finden. So verglich sie Kinder mit gut erzogenen Haustieren: "Der Hund ist begierig darauf, Befehle zu erhalten, und läuft mit vor Freude wedelndem Schwanz, um zu gehorchen."

Mit ihrer kritischen Lektüre provoziert Seichter einen mitunter blauäugigen Montessorismus. Die Dekonstruktion der Kuschelpädagogik begann bei Rudolf Steiner (1861-1925), in dessen anthroposophische Pädagogik ebenfalls rassenbiologische Überzeugungen einflossen. Kritiker lehnen Schulen und Heilverfahren, die auf Steiner zurückgehen, als Inbegriff der Wissenschaftsfeindlichkeit ab. Der Angriff auf Montessori kommt aus der anderen Richtung. Sie steht nicht wie Steiner für den Glauben an höhere Wesen, sondern für eine fragwürdige Wissenschaftsgläubigkeit.

Das Zurück zur Natur bedeutete in den Utopien von 1900 oft ein Vorwärts zur Biologie: zur Rassenhygiene, die den Aufstieg von "minderwertigen" zu "hochwertigen" Erbanlagen pries. Oder zur Eugenik, die staatliche Eingriffe in die Fortpflanzung vorschlug, etwa durch Geburtenkontrolle oder Zwangssterilisation.

Die von den Nazis betriebene "Ausmerzung lebensunwerten Lebens" macht es heute unmöglich, auf den Fortschritt von 1900 ohne Entsetzen zurückzublicken. Die einen argumentieren, man müsse Irrtümer aus ihrer Zeit heraus verstehen. Die anderen wenden ein, dass Eugenik direkt zur Euthanasie führte.

Hinter der Montessori-Debatte steckt auch ein Streit in der Bildungscommunity. Auf der einen Seite stehen Seichter und ihr Doktorvater, der Würzburger Pädagogik-Professor Winfried Böhm. Auf der anderen Seite argumentiert der Düsseldorfer Bildungsforscher Heiner Barz.

Ministerin für race

Barz wirft Seichter die Verfälschung von Quellen vor. So übersetze sie das 1951 geforderte "Ministry of the Race" mit "Ministerium für die Verbesserung der menschlichen Rasse", während Barz für das englische race die unverfängliche "Menschheit" vorschlägt: "Von der insinuierten Eliminierung lebensunwerten Lebens findet sich in der Originalversion rein gar nichts." Seichter habe sich demnach einseitig die "bösen" Anteile herausgepickt. Wer so viele Gegensätze auf sich vereint wie Montessori, auf den trifft jedenfalls das Prädikat "schillernd" zu.

Vielleicht ist das richtige Verständnis von Montessori auch ganz woanders zu suchen. Die "Höherentwicklung der Menschheit" findet heute im Labor statt. Wissenschaftler sortieren im Reagenzglas Gendefekte aus und entwerfen Designerbabys nach dem Wunsch der Kunden. Transhumanisten wie Tesla-Gründer Elon Musk träumen davon, die Grenzen der Biologie zu überschreiten. Durch Implantate wollen sie den Körper optimieren und den Geist durch chemische Präparate dopen.

Musk gehört zur Montessori-Clique des Silicon Valley: Amazon-Inhaber Jeff Bezos oder Facebook-Fürst Mark Zuckerberg besuchten Montessori-Schulen. Der Tesla-Chef propagiert einen Techno-Utopismus, der sich mit den Lehren der dottoressa durchaus in Einklang bringen lässt. Für eine neue Privatuniversität in Texas plant der Visionär eine "authentische Montessori-Schule". Die Entwicklung des Menschenparks schreitet voran