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Südwind - Magazin 2001
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Das soziale Netzwerk als neuer Terminus, der soziale Organisationsformen zu begreifen versucht, hat in den letzten Jahren Karriere gemacht. Dabei geht es nicht nur um Deskription von Realität, sondern auch um Wünsche oder Projektionen an sie. Beispielhaft sei Gustavo Estevas Beschreibung der autonomen sozialen Basisorganisationen genannt, die nicht in einer straffen Organisation zentralistisch verbunden sind, sondern ein lockeres Netzwerk bilden. Diese Vernetzung ist so wenig institutionalisiert wie möglich, weshalb Esteva von diesem Netz als der "Hängematte" spricht: man kann sie benutzen, wenn man sie braucht, aber wenn man sie nicht braucht, hat sie so gut wie kein Gewicht. (*) Netzwerke sind „idealtypisch“ eine Form kollektiven Handelns, die die Abspaltung des Politischen von der Gesellschaft, die Verselbständigung von Hierarchien, Repräsentanten, Apparaten zu verhindern sucht; in der es möglichst kein Oben, keine Zentrale, keine Befehlshaber, keine Ideologie gibt, in der das Individuum, die Gruppe, die Gemeinde ihre Autonomie bewahren. Trotzdem, das ist das Wichtige, sollen sie zu organisiertem sozialem Handeln fähig sein. Mehr als das; Netzwerke sollen das tote Gewicht und die strukturellen Defizite der Institutionen Staat und Markt nicht nur mindern, sondern vielleicht sogar ersetzen helfen. Oder: „Die "Gesunde Stadt" Wien stellt erstmals eine Studie zum Thema "Bedeutung sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung für die Gesundheit" vor. Einige Ergebnisse: Je mehr FreundInnen und Bekannte eine Person aufweist, desto eher fühlt sie sich gesund und desto weniger gesundheitliche Beschwerden gibt sie an. Chronisch oder akut erkrankte Personen haben ein deutlich kleineres soziales Netzwerk im Vergleich zu Gesunden. (*) Netzwerke sind also nicht nur Ersatz für andere Formen des Handelns, sondern wahrscheinlich konstitutiv für die Entfaltung nachhaltiger, lebensfähiger Formen des Handelns. Sie geben uns das Gefühl der Kontrolle, der Überschaubarkeit, der Möglichkeit, verschiedenste Probleme zu lösen.
In der Gesellschaftswissenschaft wurden Netzwerke lange Zeit vernachlässigt; es entstand ein Spalt auch in der theoretischen Beschreibung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Psychologie und Soziologie. Das „Soziale“ erschien als wundersame Regelhaftigkeit und Funktionalität menschlicher Beziehungen, die den Individuen als äußerliche, fix und fertige Anforderung gegenübertritt. Generationen von Soziologen mühten sich mit Kategorien wie „Wert“, „Rolle“, „Institution“ ab, in denen Gesellschaftlichkeit quasi ohne Zutun der Individuen existiert. Wir erkennen heute, wie sehr dieses Denken geprägt war von der scheinbaren Selbstverständlichkeit vertikaler Strukturierung der Gesellschaft. Alvin Toffler hat von der „zweiten Welle“ gesprochen, von drei Jahrhunderten einer fast an Wahn grenzenden und keineswegs beendeten Konstitution der Gesellschaft durch Apparate: durch Staat, Industrie, Erziehungswesen, Gesundheitswesen und so fort. In diesem Wahn der totalen Institution spielen Massenproduktion, Standardisierung, Spezialisierung, soziale Kontrolle durch Medien, Politik etc. eine beherrschende Rolle. Daß sich soziales Leben auch genauso von unten nach oben konstituiert – und daß es genaugenommen nur so funktioniert - war lange Zeit ein vergessenes und verdrängtes Faktum. Erst mit dem Heraufkommen der „Dritten Welle“ innerhalb der gesellschaftlichen Produktion selbst, dem bewußten Einsatz von Automation und dezentraler Intelligenz, wurde auch das Denken über Gesellschaft revolutioniert; neue, interaktionistische Schulen der Soziologie entstanden, die auf die Konstitution sozialer Prozesse durch Individuen hinwiesen. Klassisch ist die Studie von J.A. Barnes über das norwegische Dorf Bremnes (1954) (*) wo der Begriff zum ersten Mal in der Literatur auftaucht. Er stellte fest, daß sich jenseits der stabilen Interaktionen innerhalb der formalen und hierarchischen Struktur des territorialen und industriellen Systems noch andere soziale Beziehungen verbergen, die aus Freundschafts-, Nachbarschafts-, oder Bekanntschaftsbeziehungen bestehen, welche jedermann in der Gemeinde eingeht. Die moderne Gesellschaft hat aber diese alten, territorialen Netzwerke scheinbar just in dem Moment aufgelöst, wo sie zum Gegenstand des theoretischen Interesses wurden. Die Münchner Subsistenztheoretikerin Christa Müller beschreibt in ihrem Buch „Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf“ wie die Bewohner einer Gemeinde in Westfalen namens Bogentreich ihre wechselseitigen Austauschbeziehungen und damit ihre Eigenmacht schrittweise aufgaben, um in sozialen „Rollen“ wie Lohnarbeiter und Konsument den Versprechungen auf ein besseres Leben zu genügen. Sie beschreibt aber auch Ansätze einer neuen Regionalisierungsbewegung, in denen dem formal rationalen, aber in Wirklichkeit immer irrationaleren sozialen System wieder überschaubare Zusammenhänge und frei gewählte, auf Dauerhaftigkeit angelegte soziale Beziehungen entgegengesetzt werden. Netzwerke sind also einerseits empirisch feststellbar, andererseits auch der Trend, daß die mit den Netzwerken verbundene „moralische Ökonomie“ der gegenseitigen Verpflichtung und Achtung von Individuen als einengend und beschränkend erlebt wurde; dies vor allem dann, wenn die Netzwerkbeziehungen keineswegs frei gewählt, sondern durch Abstammung, Lokalität, Tradition, äußere Not eingegangen wurde. Solche Netzwerke, so sehr sie reale Lebensprozesse unterhalb der „offiziellen“ Rollenzuschreibungen und Handlungsmuster tatsächlich bestimmen, haben die Tendenz sich aufzulösen, wenn sich den Teilnehmern, wenn auch nur in der Form der Hoffnung oder Erwartung, scheinbar autonomere Handlungsmöglichkeiten bieten. Staatliche und wirtschaftliche Heilsversprechen, das ganze Projekt der Modernisierung lebte davon, den Individuen die Autonomie zu versprechen, die in der unmittelbaren Verbindung von Individuen negiert zu sein schien. Dem Schreckbild des mafiosen Netzwerks, der unkontrollierten, undurchschaubaren, unlegitimierten, undiskutierten Machtballung, der heimlichen Hierarchie, die als egalitäre Beziehung sich tarnt, wurde die Garantie menschlicher Individualität durch die anonyme Gleichheit vor der Instititution gegenübergestellt.
Netzwerke sind ein uraltes Phänomen; Vielleicht sind sie sogar die älteste soziale Organisationsform überhaupt. Wir wissen heute aus der ethnologischen und sozialanthsopologischen Forschung, daß kaum eine der menschlichen Subsistenzgemeinschaften in Isolation existierte, daß die Welt keineswegs an den Stammesgrenzen endete, sondern daß auch die selbstbezüglichsten Lebensformen in ein weitläufiges Netz von bestandssichernden Austausch- und Schutzbeziehungen eingebunden waren. Jahrtausendealte Handelsstraßen künden von den Bedürfnissen lokaler Subsistenzgemeinschaften nach bestimmten Produkten fremder Herkunft und Klimate, die freilich eng umschrieben sind. Die Herstellung von Märkten und Austauschplätzen ist selbst außerökonomisches Handeln, und dieses Handeln ist erst sehr spät politisch – institutionelles Handeln gewesen. Zugleich sind Netzwerke für viele DIE Utopie unserer Zeit, in der es nicht mehr darauf ankommt „das Projekt der Modernisierung und Entwicklung zu vollenden, sondern es zu beenden“ (C.Spehr) (*) Die Erfahrung ist übermächtig, daß die Moderne im Resultat zu absurderen Machtballungen geführt hat als sie jemals in der Geschichte vorhanden waren – und auch die Garantie, daß gesellschaftlicher Reichtum nur sachgerecht dazu verwendet wird, sich weiter zu vermehren, vermag uns nicht mehr zu beruhigen. Die Kosten der Konkurrenz, der verschwendete Reichtum im Ausgleich von Angebot und Nachfrage sind astronomische Größen geworden, denen gegenüber das Leben zu verschwinden droht. Die Utopie tritt in vielen verschiedenen Formen in Erscheinung: - als Betonung von regionaler und lokaler Autonomie und zugleich dem Insistieren darauf, daß Probleme nur in einem gesellschaftlichen, globalen Rahmen gelöst werden können, für die Staaten oder territoriale Einheiten ohnehin zu klein seien. - als Betonung der Zivilgesellschaft gegenüber dem staatlichen Anspruch auf Unterwerfung der Akteure unter formale Regeln; demgegenüber wird die Effizienz der Verhandlung und Abstimmung von Interessen im vor - rechtlichen Raum betont. Gleichheit vor dem Gesetz bedeute hingegen Absehen von allen realen Unterschieden und daher Verstärkung der Ungleichheit. - als Betonung von Solidarität und gemeinsamer Zweckbestimmung des Handelns gegenüber einem rein ökonomischen Motiv, das sich letztlich nur auf die Vermehrung privater Ressourcen und auf wechselseitige Instrumentalisierung richtet. Gemeinsam ist all diesen Aspekten, daß die Errungenschaften der Moderne nicht geleugnet werden; diese hat überhaupt erst, um ein Wort von Toffler zu zitieren, quasi die Kanäle gebaut, auf denen die Menschen zugleich als Weltbürger und zugleich als Konstrukteure ihrer ganz besonderen und spezifischen Kultur auftreten, die nicht mehr hinter einer „Leitkultur“ oder gesellschaftlichen Standardisierungen zurücktritt. „Soziale Netzwerke“ sind in diesem Sinn Kulturen, Werte- und Normensysteme, die nicht mehr mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit, sehr wohl aber mit der Verbindlichkeit für all diejenigen, die sich ihnen verbunden fühlen wollen auftreten und die gerade sich in dieser Spezifik in ein globales Gemeinschaftswerk einfügen wollen.
Literatur 1. Gustavo Esteva, "Den menschlichen Lebensraum wiedererlangen - oder: die Hängematte" in: ds., FIESTA - jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik,Wien:Südwind,1992 2. Barnes, J.A., 1957, Land Rights and Kinship in two Bremnes Hamlets, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 87/1: 31-56. 3. C.Spehr, Postmoderne Austände, in: Chiapas und die Linke, herg. Vom Asta der FU Berlin, 1997
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