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Das Elektronische Kaffeehaus Als Mehrdeutiger Ort


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"Stadt mit Fernbedienung: Zugangspunkte zu städtischen Diensten in strukturschwachen Stadtteilen durch Electronic Cafés?"

Beitrag von Franz Nahrada auf der CORP 2002

VORBEMERKUNG

Die folgenden Ideen entstammen einem gemeinsamen Projekt der Veranstalterkooperative von "Global Village". Aus Überlegungen der Wiener Gruppen GIVE und plan.sinn zur sinnvollen Fortführung der Veranstaltung entsprangen Ideen zu "Electronic Community Café" und "Open Source Table".

http://www.electroniccafe.at/

Diese Ideen werden absichtlich in einer sehr frühen Phase publiziert, um die Möglichkeit eines offenen Netzwerkes und eines modularen Zusammenwirkens von Unternehmen und Organisationen zu schaffen. Der Text versteht sich eher als Aufruf im Sinne einer sich herausbildenden Kultur der Open Source auch auf Gebieten jenseits der Softwareproduktion denn als wissenschaftlicher Beitrag.

Die Einladung, Riskantes und noch nicht fertig Ausgeformtes mitzudenken, geht auch an Planer!!!

EINLEITUNG: WOZU NOCH ELECTRONIC CAFES......

Es scheint daß die große Zeit der Surfcafés schon wieder vorbei ist; wer eine Waschmaschine und einen Kühlschrank zu Hause hat geht ja auch nicht wirklich gerne in einen Waschsalon, und Gemeinschaftskühlhäuser gibt es schon lange nicht mehr. Seit Breitband im Haushalt Einzug gehalten hat ist das Internet Café eher etwas für Touristen und die Mode verschwindet so schnell wie sie gekommen ist. Eine Surfstation in der Ecke wird vielleicht bald zum Standard vieler Lokale gehören.

War's das? Moment! Da war noch was. Wir tragen unsere empfindlichen Sachen lieber in die Putzerei um sie chemisch reinigen zu lassen. Wir haben es gerne, in einer zunehmend komplexer werdenden Welt persönlich betreut und beraten zu werden. Wir gehen lieber einkaufen als Tele-shoppen, weil wir dabei auch was erleben können.

Vielleicht hat auch das Surfcafé eine Zukunft. Vielleicht geht es da weniger um den simplen Zugang zum Internet, sondern um das drumherum, das knowhow, die Mischung mit persönlicher Kommunikation. In einem Magazin der Reisebürobranche hieß es sinngemäß über die Reisean-gebote per Internet: Die dritte Welle im e-commerce beginnt.Während in der ersten Welle die stationären Einzelhändler nicht die Erwartungen ihrer Web-Kunden treffen konnten, waren die rein virtuellen dot.coms der zweiten Welle mit ihrer reinen Internet Präsenz überfordert. In der jetzt beginnenden dritten Welle verbinden sich Markenpräsenz im Internet mit "richtiger" stationärer Präsenz. Und dafür muß man sozusagen die stationäre Präsenz neu erfinden.

.....UND NOCH DAZU IN NIEDRIGFREQUENZLAGEN?

Aber ist das nicht eher etwas für Einkaufszentren mit ihrer hohen Kundenfrequenz? Kann das kleine Kaffeehaus tatsächlich der stationäre "Stützpunkt" für Dienste und Marken werden und dennoch in dieser Partnerschaft seine Gemütlichkeit und seine Neutralität bewahren? Kann es überhaupt mit kritischer Masse aufwarten, um neue Vertriebskonzepte anzuregen?

Diese Frage haben wir eine zeitlang durchdacht, denn sie ist verbunden mit der Frage nach neuen Modellen der Nahversorgung und möglichen Gegenmitteln zum Sterben der Gasthäuser, Kaffeehäuser, Postämter, Bankfilialen, das sich in rasender Geschwindigkeit und zunehmend fühlbar um uns herum abspielt. In diesem Zusammenhang ist das Experiment mit einem neuen Lokaltypus auch eine prinzipielle Nagelprobe darauf , ob sich durch lokale Kooperation der ständig steigende ökonomische Konkurrenzdruck auffangen läßt oder nicht. Eine erfolgreiche Lösung dieser Frage könnte auch ein Beitrag zur Lösung des Problems der Nahversorgung in strukturschwachen städtischen und ländlichen Gebieten sein.

Der hier vorgestellte Entwurf bedarf zu seiner Realisierung sowohl engagierter Mitstreiter als auch breiter Partizipation. Er bedarf exzellenten Designs, nicht bloß guten. Er bedarf großer Erfahrung und praktischer Versuche. Deswegen gehen wir damit Open Source: wir entwickeln eine Idee im Netzwerk. Wir vernetzen die künftigen Betreiber und Benutzer und regen sie an, mit uns gemeinsam nachzudenken, Prototypen zu entwickeln etc. Was daraus wird, entscheiden alle gemeinsam und jeder für sich.

1. Das Electronic Café als mehrdeutiger Ort

" Ein immer informelleres und immaterielleres System der materiellen Produktion benötigt Verbindungen zu den Orten, an denen die Menschen ihre Freizeit verbringen. Diese Orte werden daher viele Zwecke erfüllen, telematisch verbunden, gesellig und - warum auch nicht - mehrdeutig sein, das heißt offen zur Zukunft, ohne geneue Definition, transformierbar" Giorgio Conti, Professor für Architektur an der Universität Venedig

Stelen wir uns so ein Electronic Café in einem Wohngebiet vor, denn da gehört es allerdringlichst hin. Es soll nicht nur "nach der Arbeit" besucht werden, sondern vielleicht auch davor, um sich einzuklinken in das Firmennetz, bis der Morgenstau nachläßt. Es soll Gelegenheit geben, Wege zu erledigen oder erledigen zu lassen, für die man sonst Auto oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen müßte. Es soll Gelegenheit bieten, sich von Experten beraten zu lassen, die gewonnen Informationen am Netz zu vertiefen oder anzuwenden.

Aber mehr als das: In diesem Café wird auch Programm geboten. Es ist möglich einen kleinen Kurs zu besuchen oder sich mit anderen zu einer computerunterstützeten Besprechung zu treffen. Vereine, Initiativgruppen und Senioren treffen sich hier, um gemeinsam im Internet zu recherchieren oder einfach nur an einem Ort zu tratschen, wo jede auftauchende Frage sofort beantwortet werden kann. Künstler machen Programm mit digitalen Medien, oder es findet eine kleine Filmvorführung mit DVD statt. Firmen nutzen das Café für Präsentationen ihrer Produkte und laden zu kleinen events. Im Foyer oder im Fenster steht ein access point, den jeder Passant benutzen kann wie einen Bankomaten. An der Außenseite ist erkennbar, was gerade geboten ist und wann der Beratungsservice von Bank oder Versicherung oder der Telekommunikationsgesellschaft verfügbar ist. Viele bekannte Logos trägt diese "virtuelle Filiale", nicht nur eines.

Dem Wiener Café wohnt diese funktionale Mehrdeutigkeit inne. Es hat sich in vielen Bezirken als "Heimat" für Sprachkurse, Vereine, Schachspieler, Firmenmeetings, Verkaufsgespräche etc. entwickelt und auch eine gewisse Kultur des wechselseitigen "gepflegten Ignorierens" all dieser Aktivitäten hervorgebracht. Diese Mehrdeutigkeit zu erweitern ist nun auf Grundlageder elektronischen Medien möglich geworden.

Diese Mehrdeutigkeit durchbricht sogar die herkömmliche Trennung in öffentliche, kommerzielle und soziale "Beschilderung" eines Ortes. Geling ihre Realisierung, dann stehen diesem Ort mehr Ressourcen aus verschiedenen Quellen zur Verfügung.

Besonders reizvoll ist in diesem Zusamenhang die Möglichkeit, das digitale Environment auch als Mittel der kulturellen Betätigung zu verstehen. ("Kulturcafé"). Dichterlesungen und Vernissagen könnten ergänzt werden durch Präsentationen von Multimedia-Kunst, interaktive Formen der Kreativität mit digitalen Medien, Vermittlung von Malerei, Literatur etc. Es gibt hier kaum Fragen der Finanzierung, des Materials, der Ausführung und der Präsentation als Elementarbedingungen von künstlerischer Entfaltung und Ausdrucks. Neue Kunstformen wie digitales Video haben noch kaum adäquate Räume der Aufführung und des Zuganges. Die Digitalisierung des Bestandes von Galerien, Museen, Verlagen, Archiven ermöglicht vielfältige Zugänge zur Kunst anderer und das Eingehen auf kulturelle Interessen der Besucher, sie macht auch eine "Digitale Kreativität" auf der Basis von Modifikation und Transformation bestehenden Materials möglich, ohne dieses zu beeinträchtigen.

Aber auch profanere Begegnungen sollen im Electronic Café möglich sein. Ideen dafür sind z.B. "Grätzelchronik", elektronische Tauschzentrale, moderierte Werkstätte für die Zukunftsgestaltung - "wie gestalte ich meine Umgebung". In diesem Sinne paßt das "electronic café" sehr gut in die Gedankenwelt der Stadtteilarbeit und des Quartiersmanagements.

2. Das electronic Café als "First Stop" - Dienstleistungsort

Das Electronic Café Konzept ist eine Antwort auf die Frage nach einem nachhaltigen Modell der Verbindung von Nahversorgung und e-commerce. Die Öffnungszeiten und Serviceleistungen gehen in ihrer Vielseitigkeit und Flexibilität weit über die Möglichkeiten traditioneller Geschäfte und Filialen hinaus und passen sich flexibel Zielgruppen an. Das Caféhaus wird zum Ort der erweiterten Möglichkeiten, in dem sich persönliche Beratung, Distribution von Informationsmaterial, Benutzung des Internet als Informations- und Bestellmedium, Feedback, Schulung etc. in einer unaufdringlichen Form ohne schrillen "Information overload" realisieren lassen.

Darüber hinaus leistet das Electronic Café eine lokale Synthese von wirtschaftlichen und öffentlichen Dienstleistungen. Das Konzept des Electronic Café ist für alle Anbieter offen, die in einem bestimmten Marktsegment an der Kommunikation mit den Anwohnern eines Gebietes interessiert sind.

Allerdings: das ECK lebt davon, daß die Dienstleistungen den Benutzern nicht aggressiv präsentiert werden, sondern "auch" verfügbar sind. Das gesamte Erscheinungsbild ist auf der dezenten Unterordnung der einzelnen Präsentationen unter ein neutrales Erscheinungsbild aufgebaut. Im Vordergrund steht das Electronic Café als Ort kultureller Betätigung, als lokaler Treffpunkt, als Ort der Bildung; doch gerade aus dieser Vielseitigkeit ergeben sich ständig Möglichkeiten der Kontaktaufnahme. Umgekehrt soll die "virtuelle Filiale" die Besucher ermutigen, selbst die Kompetenz zu erlangen, die immanente "Selbstbedienungsmöglichkeit" des Internet zu Hause auszunutzen - oder weiter in die Tiefe zu gehen und spezialisierte Orte aufzusuchen.

Die Liste der Dienstleistungen, die über das Electronic Café zugänglich sein sollten, erstreckt sich auch auf soziale Dienste. Bei der Suche nach Information über Jobs, Kurse, Wohnungen, Fahrpläne etc. etc., bei der Suche nach Unterstützung in Sachen Kinderbetreuung, Haushalthilfe, Beistand bei administrativen Angelegenheiten, Altenbetreuung, Krankenpflege, Wellness, Körperpflege, Krisenintervention,Betreuung und Integration Behinderter und Drogenkranker, Kommunikationshilfe (Übersetzungen), Transporte usw. könnte das Eck ein erster lokaler Anlaufpunkt (weniger für die Probanden selbst als für deren lokale Angehörige) sein, und vielen Vereinen und sozialen Organisationen als Anlaufpunkt dienen. So entsteht ein "Interface" zu den vielfältigen und für den Normalbürger undurchschaubaren und komplex organisierten Hilfs- und Unterstützungssystemen in geographischer Nähe, das vielleicht auch der Aktivierung zivilgesellschaftlicher Potentiale dient.

Einige zusätzliche Ideen:

Vielleicht kann auch eine Kultur des "Verleihens statt Besitzens" gefördert werden - Car Sharing und ähnliches sind in ihrer Logistik durch das Internet plausibler geworden.

Ein kleines aber markantes Beispiel: das Vorteilsticket der ÖBB sieht günstigere Preise für diejeningen vor, die ihr Ticket über das Internet bestellen. Gerade in solchen Fällen kann und soll das Electronic Café Hilfestellung geben.

Eine "lokale Zeitung - Zeitung des Lokals", die sowohl als Programmzeitung an die Haushalte der Umgebung geht als auch interaktiv als Austauschmedium für alle im Netz zur Verfügung steht, ergänzt und bündelt das Angebot.

Anzustreben ist, daß das Electronic Café als Innovationszentrum mehr und mehr dieser Funktionen "auslagert" und zu einer Wiederbelegung der zum Teil nur mehr als Lager verwendeten Geschäftslokale in der Gegend beiträgt. Eine Überhäufung mit Funktionen ist also keine Gefahr: was erfolgreich ist, kann und soll sich ruhig verselbständigen!

3. Das Electroniccafé als inszenierter Ort

Selbstverständlich stehen dem individuellen Besucher individuelle Surfmöglichkeiten zur Verfügung; er wird dabei auch durch keinen Lärm irritiert, außer zu Zeiten, die explizit als Veranstaltungszeiten gewidmet sind. Doch die Besonderheit des Electronic Café besteht darin, beständig so etwas wie ein "Programm" aktiv anzubieten und auch zu bewerben. Dabei sind möglichst tägliche oder wöchentliche Rhythmen vorzusehen.

Das Electronic Café bietet Coaching nach folgendem Muster; Der Kellner/ die Kellnerin, die den Kaffee oder den Spinatstrudel bringt, ist auch so etwas wie "Server" für die Möglichkeiten, die die Kommuniaktion im Netz bietet. Es gibt eine "Speisekarte", die beständig auch den Aspekt der Kultur, der Bildung, der Aktion, der wirtschaftlichen Dienstleistung, des Zugangs zu Wellness und sozialen Diensten aktualisiert. Multimediale Agents helfen, die Belastung der "Server" so gering wie möglich zu halten, doch soll die persönliche Ansprache immer möglich sein. Das Coaching könnte in die Praxisausbildung von IT- Berufen eingegliedert werden und so sowohl die Ausbildungsqualität befördern als auch einen Beitrag zur Realisierbarkeit des Electronic Café leisten (sozioökonom. Betrieb)

Daneben sind natürlich Schulungen, Seminare, Trainings jeder Form zu festgelegten Zeiten möglich. Das Electronic Café ist ein "fliegendes Klassenzimmer" und vielleicht auch ein virtueller Erlebnisraum. Computerprojektion verwandelt die Wände in Fenster oder Dekorationen und laden zu gemeinsamen Reisen ein.

Das Electronic Café erfüllt wirtschaftliche und soziale Funktionen gleichzeitig; darauf gründen sich Partnerschaften und Betriebskonzept. Nur unter der Bedingung eines weitgehend vernetzten Denkens und Handelns werden sich solche Projekte realisieren lassen.