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2015-03-18


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* Ein Kommentar zum Thema "Industrie 4.0"
* Ein Kommentar zum Thema "Industrie 4.0"

Lange Wellen und globale Krise

18.03.2015, 17:15 Uhr im Raum P-702, Paulinum der Uni Leipzig (7. Etage), Augustusplatz.

Ankündigung

Die Verschränkung technologischer und ökonomischer Entwicklungen ist ein immer wieder umstrittenes Thema. Allein klar zu sein scheint, dass dies kein kontinuierlicher Prozess ist, sondern in längeren Abständen grundlegende Umbauphasen gesellschaftlicher Institutionen zu beobachten sind. Joseph Schumpeter sieht derartige "Innovationszyklen" ebenso wie Thomas S. Kuhn, der diese Beobachtung mit "Paradigmenwechseln" in der Wissenschaft in Verbindung bringt. Eine erste empirisch basierte ökonomietheoretische Untersuchung hat der russische Ökonom Nikolai Kondratieff in den 1920er Jahren vorgelegt. Dieser Ansatz wurde seither von vielen Autoren aufgenommen.

In meinem Aufsatz "Lange Wellen und globale Krise" versuche ich mich an einer eigenen Interpretation dieser "Zyklizität" gewisser Phänomene, die im engen Zusammenhang mit Umbrüchen im Bereich technologischer Entwicklungen stehen. Diesen Text stelle ich zur Diskussion.

Link:

  • Hans-Gert Gräbe: Lange Wellen und globale Krise. In Sozialgeschichte online 11/2013. ( pdf)
Hans-Gert Gräbe, 23.02.2015

Ergänzung:

Anmerkungen

Gelegentlich ist es spannender, die richtigen Fragen zu finden als Antworten zu geben. Ein solcher unausgesprochener Konsens war auch die Klammer unserer Diskussion. Als Input lag mein Aufsatz "Lange Wellen und globale Krise" vor, in dem der Versuch unternommen wird, einen Aspekt des komplexen Beziehungsgefüges zwischen Technikentwicklung und ökonomischer Entwicklung aus der speziellen Perspektive "langer Wellen" ins Visier zu nehmen und dazu eine weitere spekulative Theorie auf einer anerkannt dünnen Datenbasis zu entwickeln. Hintergrund des Entstehens dieses Aufsatzes war ein Angebot von Karl-Heinz Roth, eine solche Verzahnung von technik-dynamischen und ökonometrischen Spekulationen, wie sie zahlenmäßig fundiert erstmals in den 1920er Jahren von Nikolai Kondratieff entwickelt wurden, den üblichen, primär soziologisch fundierten Arbeiten in Sozialgeschichte online gegenüberzustellen, um so vielleicht einen Diskurs zur Thematik zu entfalten.

Die Interpretation ökonometrischer Daten ist anerkannt schwierig. Während Galileis These, dass Stein und Feder unter Absehung des Luftwiderstands gleich schnell fallen, durch eine entsprechende experimentelle Anordnung wenigstens näherungsweise einer direkten Verifikation nach heutigen wissenschaftlichen Standards zugänglich ist, gilt dies für ökonometrische Phänomene ab einer gewissen Abstraktionsstufe nicht. Das Spektrum der Spekulation über konkrete Jahreszahlen für Kondratieff-Wellen (die Existenz derartiger "Wellen" einmal vorausgesetzt) ist entsprechend breit. In meinem Aufsatz gehe ich von zwei aus der Literatur übernommenen Setzungen aus – dem Abfolgemuster "Winter, Frühling, Sommer, Herbst", in dem besonders eine scharfe, die gesamte Gesellschaft erschütternde Finanzkrise mit anschließender längerer depressiver Phase als "Kondratieff Winter" auch ökonometrische Spuren hinterlassen sollte, sowie der empirisch gestützten zeitlichen Einordnung von fünf solchen "Wellen", die einer umfangreicheren Übersichtsdarstellung des Forschungsstands zum Thema "Kondratieff-Wellen" von Poletajew/Saweljewa aus dem Jahr 1989 entnommen ist.

Die aus der Literatur übernommenen Setzungen meines Aufsatzes postulieren weiter, dass dieser fundamentalen Finanzkrise eine etwa 10-jährige Plateau-Periode vorausgeht, die ihrerseits durch eine "primäre Rezession" eingeläutet wird, welche "aus einem Ungleichgewicht heraus entsteht ... und einen Wandel in der öffentlichen Stimmung mit sich bringt ..." (siehe meinen Aufsatz). Dieser vagen Semantik setze ich die These entgegen, dass eine solche "primäre Rezession" durch die Konsolidierung von Marktakteuren im Bereich der "neuen Technologien" getrieben wird und damit den Charakter eines durch die technologischen Entwicklungen verursachten "tektonischen Bebens" innerhalb der Machtbalance zwischen verschiedenen Kapitalgruppen (bzw. im ehemaligen Ostblock in anders fundierten Machtstrukturen) hat.

In der Diskussion wurde deutlich, dass ein Versuch der Extraktion einer genaueren Zeitskala für eine solche spekulative Theorie allein aus ökonometrischen Daten auf Sand gebaut ist. Eine empirisch-ökonometrische Verifikation ist erst sinnvoll möglich, wenn genauere Thesen zu ökonomischen Phänomenen entwickelt werden, die sich empirisch-ökonomisch fassen lassen. Derartige Überlegungen sind zwar in meinem Aufsatz in Ansätzen enthalten, die Rückspiegelung auf empirisch-ökonomisch fassbare Phänomene steht allerdings aus und kann auch nur in Zusammenarbeit mit guten Kennern der Möglichkeiten empirischer Ökonomie gelingen. Darüber wurde in unserer Diskussion nicht gesprochen.

Das Hauptaugenmerk der Diskussion richtete sich vielmehr auf die Frage der Fundierung des Kondratieff-Wellen-Ansatzes als solchem. Versuche, in ökonometrischen Daten durch Spektralanalyse Zeitmuster zu erkennen, sind von verschiedenen Autoren versucht worden, und ebenso vielfältig sind die beobachteten Zeitmuster und spekulative Theorien zu deren Erklärung. Die Diskussion fokussierte deshalb immer wieder auf der Metapher des "ins Wasser geworfenen Steins" als prototypischem Bild von Technologieentwicklung und damit der Frage, ob Technologieentwicklung im gesellschaftlichen Maßstab kontinuierlich ("Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren." Quelle) erfolgt oder "wellen"-förmig im Wechsel von ruhigeren Phasen und komplexen Umstrukturierungsprozessen gesellschaftlicher Konsensstrukturen und Institutionen, deren Dynamik der Wirkung einer Tsunami-Welle gleicht, die ein "Untergrundbeben" (oder eben ein ins Wasser geworfener Stein) als Oberflächenwelle auslöst. Eine solche Metapher suggeriert eine Ungleichzeitigkeit dieser technologisch getriggerten gesellschaftlichen Umbauprozesse im globalen Maßstab, was zusätzliche Schwierigkeiten für eine empirische Verifikation mit sich bringt.

Dennoch herrschte Einigkeit, dass wohl von solchen Wechseln und damit einer phasenförmigen Entwicklung der Verzahnung von technologischer und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung auszugehen ist. Eine spektralanalytisch an empirischen Daten orientierte Argumentation wie die der Kondratieff-Wellen kann nur einen ersten Hinweis auf die zeitliche Einordnung solcher vor ihrer Beschreibung zunächst zu identifizierender Phänomene geben, die durch andere Argumentationen und Verifikationsquellen weiter zu befestigen ist.

Insbesondere wären die Technologiebündel genauer zu identifizieren, die in den einzelnen Phasen eine dominante Rolle spielen, und deren techno-logischer Zusammenhang besser zu verstehen. Geht man davon aus, dass sich diese Technologiebündel mit dem jeweiligen "Kondratieff Winter" durch den massiven Aufbau entsprechender Fertigungskapazitäten erstmals in bemerkbarem Ausmaß in ökonometrischen Daten wiederfinden, diese technologischen Phänomene also mit dem Beginn des jeweiligen "Kondratieff Winter" erstmals merklich zu Buche schlagen, so ergibt sich aus meiner Sicht auf der Basis der zeitlichen Daten von Poletajew/Saweljewa folgende Einordnung (jede Welle beginnt mit dem "Kondratieff Winter"):

  • 1. Kondratieff-Welle ab etwa 1772: Entwicklung von Kraftmaschinen zur Vervielfachung der bis dahin in breitem produktiven Einsatz verfügbaren Antriebskräfte.
  • 2. Kondratieff-Welle ab etwa 1825: Übergang zum Fabriksystem und industriellen Produktionsformen, in denen sich erst homogene Materialien in "industriellem" Ausmaß herstellen lassen.
  • 3. Kondratieff-Welle ab etwa 1873: "Chemisch-elektrischer K.", umfassender produktionswirksamer Durchbruch von Technologien auf der Basis elektrischer und chemischer Wirkprinzipien.
  • 4. Kondratieff-Welle ab etwa 1929: Übergang zur "fordistischen Produktionsweise" durch ein Bündel strukturierter betriebsorganisatorischer Innovationen, auf deren Basis erst eine industrielle Präzisionsproduktion möglich wird.
  • 5. Kondratieff-Welle ab etwa 1974: "Computer-K.", umfassender produktionswirksamer Durchbruch von Technologien auf der Basis miniaturisierender und computerisierender Wirkprinzipien.
Spannend bleibt es, Übergangsperioden wie die 1960er Jahre mit Kybernetik und BMSR-Technik einzuordnen, in denen die betriebsorganisatorischen Zielgrößen der "alten" Kondratieff-Welle auf die (Ahnungen der) technologischen Möglichkeiten der "neuen" Kondratieff-Welle treffen.

Zwei ebenso spekulative Anmerkungen zu dieser hoch spekulativen Zeitleiste möchte ich ergänzen:

  1. Keines der Technologieniveaus und damit auch keine der Wellen kann "übersprungen" werden – ohne die in industrieller Breite verfügbare Beherrschung eines vorherigen Technologieniveaus fehlen die Grundlagen, um über das nächste Technologieniveau überhaupt wirkmächtig kommunizieren zu können. Nachholende Entwicklung kann also Zeiten verkürzen, aber kein Technologieniveau in der Entfaltung der regionalen Produktionsbasis auslassen. Das wurde auf der 19. Leibniz-Konferenz noch einmal nachdrücklich thematisiert und die Folgen eines immer wieder diskutierten partiellen "Technologieausstiegs" auf europäischer Ebene problematisiert.
  2. Es wechseln sich regelmäßig Wellen, die elementaren Wirkprinzipien zum produktionswirksamen Durchbruch verhelfen, mit Wellen ab, in deren Fokus produktionsorganisatorische Umwälzungen stehen. Zwei aufeinanderfolgende Wellen stehen damit in engem kausalen Zusammenhang und nähren die Spekulation um einen weiteren noch fundamentaleren Prozess mit ähnlichen strukturellen Charakteristiken und Phasen von etwa 100 Jahren Dauer.
Letzteres passt gut zusammen mit den "Wellen der industriellen Revolutionen" (Jens Drews, Folie 7, die Zeitangaben habe ich aus obigem Raster ergänzt):
  • ab etwa 1772: Erste industrielle Revolution. Industrie 1.0. Mechanisierung.
  • ab etwa 1873: Zweite industrielle Revolution. Industrie 2.0. Elektrifizierung.
  • ab etwa 1974: Dritte industrielle Revolution. Industrie 3.0. Informatisierung.
Allein das Gerede um "Industrie 4.0" passt nicht in ein solches Muster, das industrielle Revolutionen primär aus der Sicht der technologisch erschlossenen Wirkprinzipien, also technisch thematisiert und die produktionsorganisatorischen und gesamtgesellschaftlichen Umbauprozesse als allein von dort getrieben sieht. Den meisten Protagonisten eines solchen Konzepts "Industrie 4.0" scheint gleichwohl klar zu sein, dass es dabei vor allem um den Übergang zu vernetzten Produktionsformen und agilen "kooperativen" Wirtschaftssubjekten geht, also um eine produktionsorganisatorische Revolution als zweite Phase einer umfassenden "Informatisierung". Das würde einen Begriff wie "Industrie 3.1" eher rechtfertigen als "Industrie 4.0".

Literatur:

  • Andrei W. Poletajew, Irina M. Saweljewa. „Lange Wellen“ und die Entwicklung des Kapitalismus, in: Sowjetwissenschaft / Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 2/1989, S. 142 ff.
  • Jens Drews. Mikroelektronik und Industrie 4.0: Wie weiter in Deutschland & Europa? Impulsbeitrag zur Podiumsdiskussion der 19. Leibniz-Konferenz am 19. März 2015 in Dresden. ( Folien als pdf)
Hans-Gert Gräbe, 22.03.2015


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