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Globale Stadt - Geteilte Welt

Vermutungen über die Geburt der ubiquitären Stadt - Stichworte zu einer neuen Synergie

  • Referat Villem Flusser Tagung auf der Telepolis München
  • Organisiert von der Akademie zum Drtten Jahrtausend
  • 19.10.1995

mit leichten Änderungen fürs Wiki adaptierte Fassung

Als ich gestern abend in München ankam, lief zufällig ein Film im ersten Deutschen Fernsehen, der meines Erachtens für unser Thema eine gewisse Relevanz hat. Es war ein reißerisch und gut gemachter Science-Fiction-Krimi, der die übliche Geschichte vom harten, aber unkorrumpierbaren Gesetzeshüter in ein Szenario einer nur wenige Jahre in der Zukunft liegenden Ost-West Grenzsituation stellte, in der sich nicht die Entwicklung, sondern der Zusammenbruch des Ostens vollendet hat - in dem der "Eiserne Vorhang" als Kreation des Westens wieder hochgegangen ist, um den Ansturm aus den Zusammenbruchs- und Plünderungsökonomien jenseits der Schengener Grenze aufzuhalten; mit kilometerbreiten Grenzstreifen, riesigen Flüchtlingslagern und rigider Kontrolle. Kein Weg von hier nach da außer mit kurzfristiger Sondererlaubnis, wer dagegen verstößt wird quasi gebrandmarkt.

Ich halte es für durchaus keine Themenverfehlung, die Reflexion über die vernetzte Stadt mit der Erinnerung an die zunehmende Ausgrenzung und Enthomogenisierung in unserer Gesellschaft zu beginnen, die uns vielleicht nur in der Überzeichnung einer solchen Anti-Utopie noch auffällt. Vielleicht ist es aber auch noch ein wenig zu optimistisch, Ausgrenzung und Enthomogenisierung als Trennung zweier großer Territorien zu begreifen.

Hans-Georg Möntmann beschreibt in seinem nur scheinbar nicht ganz so anti-utopischen Buch "Das Ende der Mobilität - Leben am Datenhighway", wie findige Einkaufszentren das Bedürfnis telematisch vereinsamter Menschen nach Gesellschaft und sozialen Kontakten benutzen, um in der Konkurrenz mit Teleshopping mitzuhalten: sie schicken gepanzerte Fahrzeuge mit persönlicher Betreuung, um ihre Kunden gegen Angriffe der "Datenparias" auf Kreditkarten und persönliche Identifikationscodes zu schützen. Bei einer Konferenz über Telearbeit erklärte mir eine Delegierte aus Manchester, daß derartige Szenarien durchaus mit ihrer Raumerfahrung zusammenstimmen: die Stadt als Archipel freundlicher Inseln, zum Beispiel die Wohnungen von Bekannten, in einem Meer von feindlicher Leere. Die postmodernen Wohnghettos der Reichen in den Suburbs von Los Ageles und anderswo, rund um die Uhr bewacht und gegen Eindringlinge mit hohen Mauern geschützt, vermitteln ein ähnliches postmodernes Lebensgefühl: der Westen ist auch nicht mehr das, was er einmal war.

Daß die Telematik die Auflösungstendenzen der Stadt zur Agglomeration fortsetzen kann, die mit der Entwicklung des Massenverkehrs begonnen hat, daß sie diese Entwicklung unendlich beschleunigen kann, ist klar. Weniger klar ist, daß sie auch ein gewaltiger Hebel der Kontraktion ist, der Konzentration und Zentralisation wirtschaftlicher Aktivitäten.

In diesem Bild der "Globalen Stadt" herrscht keine Homogenität mehr, sie wird zur "Dualen Stadt", in der es zentrale Punkte und Geschäftsbezirke gibt, mit hervorragender Infrastruktur, die mit ihren Leistungen und mit ihrer Produktion ganze Großregionen versorgen, oder besser die vielen anderen Punkte in dem "Raum von Flüssen", den telematische und Verkehrsnetze konstituieren; und auf der anderen Seite bessere oder schlechtere "Areas", in denen sich ein ständiges Schwinden wirtschaftlicher Existenzchancen bemerkbar macht.

Der Produktivitätsvergleich im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf macht die Eintrittskarte zum Spiel des erfolgreichen Vermarktens von Gütern und Dienstleistungen immer teurer; der Joker in diesem Spiel ist der massive Einsatz von Automation, Logistik, Informationstechnologien. Die Arbeit als Quelle des Erwerbs, der Identität und des Selbstbewußtseins - aber auch als letztendlicher Motor der Nachfrage, des Konsums und des wirtschaftlichen Wachstums hat dabei allem Anschein nach ihre Rolle ausgespielt.

In verstärkten Ausmaß gilt, daß der "Raum der Flüsse" ein Raum der Flüsse zwischen den Zentren ist, wenn man sich die Welthandelsströme der letzten Jahrzehnte graphisch dargestellt ansieht, sprint die Triade immer deutlischer ins Auge; die Beschleunigung der wirtschaftlichen Aktivitäten, die höheren Anforderungen an Produktivität und Konkurrenzfähigkeit, an Support und Wissen: sie alle machen die Zentren und hier wiederum die Stadt als Wirtschaftsstandort attraktiv und ziehen Bevölkerung und Zahlungsfähigkeit an. Die Peripherien werden intellektuell und moralisch ausgeblutet und perspektivelos; die guten Sitten und die Hoffnungen brechen dort am ehesten zusammen, wo keine Zukunft zu existieren scheint: im Dorf. Allabendlich läßt sich dieser Zusammenbruch in den tagesaktuellen Meldungen - von Jugoslawien bis Liberia - verfolgen, während in den Zentren das gesellschaftliche Produktionsaggregat eine Dynamik und Reife erfährt, die die kühnsten Träume aller Utopisten zu übertreffen scheint.

In der Konsumtempeln und Shopping Malls der Städte wird in nie gekanntem Ausmaß eine vergesellschaftete Natursphäre geschaffen, voller hängender Gärten, Food Courts und Lichtquellen, eine gesellschaftliche Gesamtmaschine der Bedürfnisbefriedigung, die mit dem Produktionsaggregat gemeinsam eine neue Stufe der Rationalität zu manifestieren scheint, jenseits des Mangels und Verhökerns, die Villem Flusser als durchaus realen Fortschritt, als potentielle Befreiung des Menschen von der Arbeit und dem Kampf um die Realisierung ihres Werts begrüßt hat :

"Dort, wo gegenwärtig auf dem Marktplatz reißende Wölfe einander zerfetzen und auf die Schafe lauern, werden Tag und Nacht Rudel von immer intelligenter werdenden Computern die Automaten regieren." (Flusser, Städte Entwerfen).

Doch anstatt auf dem Flusserschen Tempelberg landet ein zunehmend größerer Teil der Bürgerschaft im Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Schon werden die ersten Roboter gebaut, die auch das Bauen automatisieren, und im NIKE-Sportschuh, den man im FOOTLOCKER erstehen kann, stecken gerade noch 0,25% Lohnkosten, wie uns belgische Ökonomen vorrechnen. Der Konsument, der die profanen Tempel bevölkern soll, wird zu einer seltsam unwirklichen Gestalt.

Freilich: in den Köpfen sind auch die, die gar kein Geld mehr haben, Geldsubjekte, die daher magisch von der Stadt angezogen werden, auch wenn sie ihnen nichts zu bieten hat als vage Möglichkeiten. Die Stadt, in der demographischen Beobachtung nach schon fast (45%) die Hälfte der Erdbevölkerung lebt, diese Stadt wird zur demographischen und ökologischen Katastrophe, vor allem in der dritten Welt, wo der Space of Flows hauptsächlich im Abtransport von Ressourcen besteht. Vilem Flusser hat - geprägt durch seine Zeit in Sao Paolo- angesichts der modernen metropolitanen Agglomerationen vorgeschlagen, das Wort "Stadt" durch das Wort "Ameisenhaufen" zu ersetzen. "Sao Paolo hat 16 bis 17 Millionen Einwohner, trotzdem würde ich es nicht mehr Stadt nennen, weil es keinen Stadtkern und keine Peripherie gibt....", sondern "überall Hochhäuser und dazwischen Hütten" und pointierter: "die Quantität ist ein Feind der Stadt."

Wer es sich leisten kann flieht vor den Emissionen, der Ressourcenknappheit und der latenten Aggression in die schon erwähnten Ghettos der Reichen, in die Edge Cities, verkehrsgünstig gelegen, emissionsarm, gut abgeschirmt. Untersuchungen in Amerika haben ergeben, daß echte Telearbeiter den obersten Einkommensschichten angehören. Sie designen, konzipieren, koordinieren, kontrollieren ortsunabhängig. Freilich haben selbst sie mittlerweile damit zu kämpfen, daß ihre Kollegen in Bangalore oder Jamaica um einen Bruchteil ihres Gehalts dieselben Leistungen anbieten. Die globalen Spieler bedienen sich aller Ressourcen, um den Produktivitätswettlauf zu gewinnen - und die Städte reagieren darauf.

Im Kampf um den Standort ist es für Städte zur Existenzfrage geworden, Niederlassungen globaler Unternehmungen zu beherbergen. Die Frage taucht auf, wer sich zum exklusiven Klub der "globalen Städte" zählen darf - New York, Tokyo, London, Frankurt und wer noch? Die Frage ist keine Frage mehr, denn dem Leitbild der globalen Stadt hängen mittlerweile auch die Stadtplaner von Budapest, Prag, Linz oder Wien an. Eine solide industrielle Basis und die Basis an Arbeitskraft ist nicht mehr das, was sie einmal war - an ihre Stelle treten "weiche Standortfaktoren", die Wissensbasis einer Stadt, das Vorhandensein spezifischer Unternehmenscluster, ja selbst die Umweltbedingungen spielen hier eine Rolle.

Unternehmen sind sehr wählerisch geworden, weil es ihnen gerade darum geht, einen sehr weitläufigen Matkt zu bedienen. Transport und Infrastruktur sind selbstverständliche Voraussetzungen, die aber letztlich nicht mehr entscheiden. Wichtiger ist vielleicht z.B. die Frage, ob man auf ein logistisches Stockungsproblem in einer halben Stunde die passende Antwort erhält. All dies läßt es für die Städte immer prekärer werden, auf quantitatives Wachstum zu setzen.

Gleichzeitig steigen aber die Anforderungen gewaltig, wenn es darum geht, in die "weichen Standortfaktoren" zu investieren. Auch hier gilt: nur wenn der Markt für Dienstleistungen groß und ertragreich genug ist, wird sich die dafür notwendige Supportinfrastruktur finanzieren lassen. So entsteht die Idee der "Public-private-partnership", in dem sich öffentliche Infrastruktur darüber finanziert, daß mit privaten Dienstleistern gemeinsam investiert wird. Die Kommune kann nicht mehr darauf warten, daß ihre Infrastrukturaufwendungen aus Steuern finanziert werden, sondern sie muß aktiv mit Unternehmen gemeinsam planen, wie sich Infrastrukturen so aufbauen lassen, daß ein return of Investment für beide Seiten gegeben ist. Tendenziell gleichen sich so Städte Unternehmen an, müssen weg vom Hoheitsdenken und statt dessen auf die Erzielung von Qualitätsstandards in ihren kommunalen Diensten abzielen.

Die Metamorphose der Städte

Daß die raumübergreifende Telematik also keineswegs dazu geführt hat, daß sich Städte auflösen, wurde uns vielfach mit harten empirischen Fakten und intelligenten Argumenten vor Augen geführt; die metropolitanen Agglomerationen sind so etwas wie ein Faszinosum der Urbanistik geworden. In den Städten kam es allerdings zu interessanten räumlichen Umschichtungsprozessen, in denen Telematik eine nicht unwesentliche Role spielte. Die signifikanteste davon ist sicherlich die räumliche Konzentration von Supportfunktionen in suburbanen "Back-Offices", die firmeninterne Verwaltungsvorgänge an solchen Orten konzentrieren, an denen die Immobilienpreise relativ niedrig, die Verkehrsanbindung gut und vor allem genügend Arbeitskräfte vorhanden sind. Banken, Versicherungen, Computerfirmen ziehen mit ihren Zentralen in die Vorstädte respektive an die Autobahnringe - also in die ehemaligen Wohn- und Industrieansiedlungsgegenden - und dirigieren von dort aus ein Netz von Filialen. Joel Garreau hat die "Edge City" anhand amerikanischer Beispiele dechiffriert, doch kann man diese Kategorie auch unschwer für München oder Berlin anwenden.

Bildet sich so einerseits innerhalb einer modernen Metropole ein Netz von Subzentren, die schrittweise und chaotisch die Merkmale von Zentralität ausbilden, ist doch andererseits noch immer der Central Business District der sichtbarste Ausdruck für die globale Bedeutung einer Stadt. Hier laufen auch die Fäden der realen Telematikinfrastruktur zusammen, wird der reale stoffliche Prozeß gesteuert, dessen Elemente oft tausend Kilometer und mehr zurücklegen, bevor sie ein fertiges Produkt ergeben.

Jenseits der Urbanistik

Von der stofflichen Seite ist freilich genau dieser Stadtorganismus einem arteriosklerotischen, verfetteten Dinosaurier vergleichbar, der durch immense Konsumtion von Ressourcen sein eigenes Aussterben vorbereitet. Die wirtschaftliche Prosperität von Städten wird teuer erkauft durch eine Vergeudung von Ressourcen, für die sich neuerdings der Ausdruck "ökologischer Fußabdruck" durchgesetzt hat. Aus den Stoffstromanalysen geht hervor, daß die Städte, die zwei Prozent der Landfläche dieses Planeten beanspruchen, in denen ca. 45% der Weltbevölkerung leben, zu ihrem Funktionieren mehr als 75% der stofflichen Ressourcen beanspruchen. Städte wie London oder Paris haben den "ökologischen Fußabdruck" von ganz England oder Frankreich, wenn es um die notwendige Grundfläche für die Produktion von Wasser, Lebensmittel, Holz oder Sauerstoff oder die Absorption von CO2 geht.

Stellt man sich konsequent auf diesen stofflichen Standpunkt und bestimmt unabhängig von den gesellschaftlichen Gründen des Wachstum einer Stadt die Ressourceneffizienz, dann ergibt sich ein höchst paradoxes Resultat. Die Ressourceneffizienz einer Stadt steigt nämlich zunächst einmal gegenüber dem flachen Land an - durch die Möglichkeiten der zentralen Organisation von Infrastrukturaufgaben und durch die kurzen Wege bei den dementsprechend arbeitsteiligen Prozessen, die Kraft, Zeit und Energie einsparen - um an einem bestimmten Punkt umzukippen.

Die "osmotische Oberfläche" der Stadt, ihre dissipativen Kontakte zur umgebenden Natursphäre, ist ab einer gewissen Größe zu klein; überproportionale Anstrengungen hinsichtlich der Zuführung und der Abführung von Ressourcen werden notwendig. Währenddessen steigt der interne Druck, etwa durch das Verkehrssystem, durch längere Wege zwischen den Funktionsbereichen Arbeit-Wohnen-Erholung, an. "Der Grund ist ein einfacher: jedes ökologisch funktionierende System, braucht eine bestimmte räumliche Ausdehnungsfähigkeit. Ist diese an Ort und Stelle nicht mehr gegeben, muß importiert und exportiert werden.

Importiert werden dann natürliche Ressourcen, exportiert werden Abfälle, Abwässer, Freizeitbedürfnisse. Damit entstehen Systeme langer Wege mit einer Zerstörung der Fähigkeit zur Selbstreinigung und mit hohem Energieverbrauch.". Der Stadtökologe Karl Ganser, von dem dieses Zitat stammt, sieht in seiner "Vision der ökologischen Stadt" eine optimale Größe in der Mittelstadt, irgendwo zwischen 50.000 und 150.000 Einwohnern: "Städte dieser Größe stehen schon heute hoch in der Gunst der Bevölkerung. Sie haben heute fast alle Vorteile der großen Stadt und noch nicht alle Nachteile."

Wenn es einen Grund gibt, warum dieser Standpunkt der stofflichen Vernunft zum Tragen kommen sollte, dann wird er wohl darin liegen, daß Kommunen ihren Versorgungsaufgaben bald nicht mehr anders nachkommen können als durch Steigerung ihrer Ressourceneffizienz. Doch es gibt noch einen zweiten Grund, der vielleicht noch viel nachhaltiger die Durchsetzung solcher städtebaulicher und regionalpolitischer Entwicklungsmodelle befördern könnte. Die Dezentralisation von Städten und das Entstehen von Stadtnetzwerken, in denen statt auf Wachstum auf stoffliche Optimalgrößen geachtet wird, könnten sich als hervoragender wirtschaftlicher Wachstumsmarkt gerade der Städte erweisen, die es mehr oder weniger zum Ehrentitel einer "globalen Stadt" gebracht haben.

Die 35 Millionen Arbeitslosen in den OECD-Staaten, die Tatsache, daß jeder neue wirtschaftliche Boom in Unterschied zu früheren Zeiten mit einem sehr hohen Automatisierungsgrad beginnt - und daher Beschäftigungseffekte aus der Industrie heutzutage weitgehend ausbleiben - , die steigenden Anforderungen an die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, die sich paradoxerweise in massenhaftem Transfer öffentlicher Ressourcen aus dem sozialen in den privaten Sektor ausdrückt, und nicht zuletzt der globale Transfer industrieller Produktion in Billiglohnländer, all dies schwächt die Kaufkraft des herkömmlichen Massenkonsums in einem Maße, das nicht nur als steigende externe Problemlage, sondern als interne Funktionskrise der Marktwirtschaft beschrieben werden kann.

Der klassische Konsument ist zwar nicht tot, aber nicht mehr die Gestalt, die letztlich als Endpunkt aller wirtschaftlichen Aktivitäten fungiert; mehr denn je ist die Nachfrage, die Investitionen bestimmt, eine simulative Größe, getragen von Staatskonsum und hypertrophen Finanzmärkten. Die telematische Wachstumshoffnung flächendeckend vollverkabelter Haushalte, denen per Video on Demand Güter und Dienstleistungen en masse verkauft werden können, ist selbst eine sozioökonomische Simulation; von Industriekommentatoren wie global players mittlerweile zurückgenommen. Es gibt schlicht gar keinen ökonomischen Grund mehr, diesen Massenkonsumenten wie eine industrielle Reservearmee in der Stadt zu konzentrieren: Doch wenn das klassische Konsumentenmodell ausfällt, weil es neben den wenigen gutverdienenden auch eine Menge Rationalisierungsverlierer gibt, gibt es dann eine Alternativvariante, die ein realistisches Potential für den return all jener Investitionen darstellt, die derzeit in die Produktivitätsschlacht um die globalen Märkte geworfen werden? Kann der alles bestimmende Tanker Business, dem die Politik nur mehr als Lotsenbot voranfährt, auch in eine andere Richtung fahren, die den vorhersehbaren global crash vermeidet?

Jede Lösung, die auf einer monetären Umverteilungsstrategie beruht, wie etwa die Vorstellung eines globalen garantierten Grundeinkommens, blamiert sich an der Tatsache, daß der riesige globale Kreditüberbau ohnehin schon eine bis zum Zerreißen beanspruchte fiktive Größe ist, der gar kein realer Reichtum entspricht.

Es ist nicht mehr möglich, die in den Produktivitätsschlachten aussortierten Teile der Weltbevölkerung nachträglich wieder zu Geldsubjekten zu machen.

Es bietet sich freilich eine Alternative an, die davon ausgeht, daß auf der Grundlage des Produktivitätsvergleiches der Kampf um die globalen Märkte weitgehend entschieden ist; daß aber die Sieger in diesem Kampf diesen umso erfolgreicher weiterführen können, je mehr sie sich darauf einstellen, mit den aus dem marktwirtschaftlichen Bereich herausgefallenenen Segmenten der lokalen, nationalen und globalen Bevölkerung ein neues Synergieverhältnis einzugehen.

Das telematische Dreieck und das Globale Dorf

Alvin Toffler beschreibt in seinem Buch "The Third Wave" die geheime Erfolgsgeschichte des späten Industriezeitalters. Alle wirklich erfolgreichen Produkte der letzten Jahrzehnte, so argumentiert Toffler, hätten eines gemeinsam: sie würden ihre Käufer in die Lage versetzen, sich selbst zu "bedienen". Der Faktor der lebendigen Arbeit sei im Vergleich zu den Industriewaren so teuer geworden, daß die Industriewaren möglichst mit der Eigenarbeit des Konsumenten konsumiert werden müßten. Umgekehrt sei die Rolle des Produkts, als Werkzeug für Eigenarbeit zu dienen und sich so teure Dienstleistungen zu ersparen, in vielen Fällen das Kaufmotiv schlechthin. Der Siegeszug des Personal Computers gegen das klassische Mainframe-Terminal Modell, symbolisiert durch den Siegeszug der Garagenbastler aus Cupertino und dann letztlich von Microsoft, sei dafür ebenso ein Beleg wie die durchgängige Automatisierung des Dienstleistungssektors auf dem Weg zur "Selbstbedienungsgesellschaft".

Der wesentliche Constraint dieses von Toffler "Prosumer" genannten Modells besteht darin, daß die Person, die über ein Geldeinkommen verfügt, und die Person, die die Eigenarbeit vollbringt, entweder ein und dieselbe ist oder aber auf die Dyade der familiären Arbeitsteilung und Geschlechterdifferenz rekurriert wird. Beides wird aber zunehmend prekärer; der auf der Kernfamilie lastende Druck zum Doppelverdienst nimmt mit zunehmender gesellschaftlicher Arbeitslosigkeit eher noch zu, die Anforderungen an die kompensatorischen Leistungen des Familienidylls ebenso. Zwar werden gerade deswegen die Gadgets der Haushaltsautomatisierung gut und reichlich gekauft; aber die Handlungsmöglichkeiten gestalten sich eben völlig verschieden, je nachdem ob man in der Gilde der Verdiener drinnen ist oder nicht. Die idyllische Gemeinsamkeit und Ergänzung der Geschlechter ist unter diesen Bedingungen zur eher feindseligen Geschlechterdifferenz verkommen, in die sogar der Gesetzgeber durch Abwaschpflicht glaubt regulierend eingreifen zu müssen. Empirisch nimmt die Zahl der Single-Haushalte daher rapide zu, im urbanen Bereich sind 50 Prozent keine Extremerscheinung mehr.

In dieser Situation herrscht ein großes Bedürfnis an gesellschaftlichen Reproduktionsleistungen, die im klassischen Familienverband nur mehr teilweise befriedigt werden können, die der staatliche Geldgeber nicht mehr finanzieren und die ökonomisch nicht rentabel angeboten werden können. Gelänge es, einen neuen sozialen Sektor aufzubauen, der mittels einer neuen Arbeitsteilung und aus lokaler Ressourcenproduktivität heraus diese Leistungen erbringen könnte, dann wären mehrere gesellschaftliche Probleme zugleich einer Lösung nähergebracht: das der Belastung der Familien, das der Arbeitslosigkeit und das der geringen Geldeinkommen.

Was die lokale Ressourcenproduktivität anbelangt, so ist aus den beschriebenen Gründen die dezentrale Siedlungsform inmitten natürlicher Dissipationsräume bei weitem im Vorteil. Alle Faktoren stofflicher Effizienz sind hier überreichlich vorhanden. Dennoch sind bislang diese peripheren Siedlungsräume bedroht gewesen, weil ihnen die kritische Masse an ökonomischen Aktivitäten fehlte, die zur Realisierung ihrer Ressourcenproduktivität durch Technologie notwendig ist.

Hier ist nun durch Telematik eine grundsätzlich neue Situation eingetreten. Die Teilnahme an der globalen ökonomischen Wertschöpfung und die Erzielung eines Geldeinkommens ist nicht mehr unbedingt mit der physischen Anwesenheit in den Metropolen verbunden (obwohl die Wertschöpfung natürlich in den Metropolen stattfindet). Eine demographische Kehrtwende ist vorstellbar, in der Telearbeit und gesellschaftliche Reproduktionsarbeit zugleich - quasi füreinander - aus den Metropolen ausgelagert werden. Die gesellschaftliche (subsistenzförmige) Reproduktionsarbeit bezieht ihre technologische Basis mittels der Geldeinkommen der Telearbeit aus den Metropolen: das ist das "telematische Dreieck", ein gesellschaftliches Austauschverhältnis, aus dem heraus sich der Antipode der "Globalen Stadt", das "Globale Dorf", konstituieren könnte. Dieses Globale Dorf ist wie ein Bed & Breakfast, dessen stoffliche Grundlagen - Energie, Wasser, Baumaterialien, Lebensmittel - weitgehend lokalen Ursprungs sind, deren rationelle Nutzung aber durch die Beiträge der telearbeitenden Kundschaft finanziert wird.

Eine Dorfträumerutopie? Nicht ganz, denn "Televillages" nach diesem Konzept werden bereits in Wales, in Florida, in Spanien und anderswo gebaut. *) Anderswo haben periphere Regionen bereits seit langem mit Ressourceneffizienz gearbeitet und entdecken nun die Telematik als Mittel, diese Basis zu verbreitern, wesentlich effektiver als etwa Tourismus. Aber dies alles ist nicht wirklich bedeutend im Vergleich zu den Gelegenheiten für die "Globale Stadt", mit einem Schlag einen konstant wachsenden Markt zu erschließen, der einen unermeßlichen Bedarf an kommunalen Diensten und intelligenten Umwelttechnologien generiert. Die telematische Verflechtung ist ja in der Gegenrichtung ein wirksamer Absatzkanal für all das, was lokale Ressourceneffizienz tatsächlich erhöht!

Damit böte sich tatsächlich eine geänderte Fahrtroute für den Tanker an: denn die bewußte Dezentralisierung verspricht neben einer Milderung sozialer Probleme auch ein Geschäft zu werden. Anstelle von simulativem Entertainment ist allerdings der Kernbereich dieses Geschäfts eine Mischung aus Distance Education, Teleautomation, Telemedizin, Teleadministration - und dem Verkauf von Equipment, das zur Konstruktion kleiner, effizienter biomorpher Stadtorganismen mit hohem Automatisierungsgrad und hoher Intelligenz geeignet ist. Solarpanele, Wind- und Biomassekraftanlagen, Greenhouses, Hydroponics, Nanotechnologie - all diese Dinge könnten in Metropolen mit enormer Produktivität hergestellt werden und ein enormes Marktvolumen darstellen.

Die Globalen Städte könnten so gerade in ihrem Konkurrenzkampf die Peripherie als Mittel der Konkurrenz wiederentdecken. Das Globale Dorf hingegen bräuchte sich vor ihrer Wirtschaftskraft nicht mehr zu fürchten.


  • ) Dieser Satz war 1995 sicherlich eine Fehleinschätzung; weder lag den Televillages der Neunziger ( Colletta, ParcBIT, Crickhowell [1]) ein solches klares Prosumerkonzept zugrunde noch konnten sich die damals gebauten Prototypen wirtschaftlich behaupten (Coletta ausgenommen. Parc BIT musste sich total verwandeln) . Ich behaupte daß da ein Zusammenhang besteht. Erst heute bestehen zumindest konzeptuell reale Möglichkeiten, das Modell GlobaleDörfer umzusetzen.
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