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Kai Ehlers


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Kai Ehlers ist ein durchaus politischer Publizist aus Hamburg, der sich im Zuge seiner Arbeiten auch mit der Theorie und Praxis der Globalen Dörfer beschäftigt.

http://www.kai-ehlers.de/profil/biograf.htm

Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt auf den Veränderungen im nachsowjetischen Raum und deren Folgen. Über zahlreiche Features bei verschiedenen Sendeanstalten im deutschsprachigen Raum und über Pressebeiträge hinaus, erschienen von ihm verschiedene Bücher zu diesem Themenbereich.

Aktuell gibt es auch interessante Ansätze ZurGrundeinkommensThematik.

Über Russland und die Dörfer


ein Exzerpt aus verschiedenen Thesenpapieren von Kai Ehlers, zusammengestellt von Franz Nahrada

Nach einem extremen Ausschlag zur Seite der Privatisierung, die zu einer Hyperindividualisierung einer Minderheit der Bevölkerung und zur Lähmung ihrer in alten Zusammenhängen verharrenden Mehrheit führte, schlägt das Pendel nun wieder nach der anderen Seite aus.

Heute zeigt es in Richtung einer Rekonsolidierung der historisch gewachsenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen. Ergebnis wird aber weder die Rückkehr zur sowjetischen, noch die Übernahme westlicher Lebensweisen sein. Etwas Neues entsteht, das aus der Wechselwirkung zwischen traditionellen russischen Gemeinschaftstrukturen und westlichem Individualismus, zwischen korporativem Verwaltungskapitalismus sowjetischen Typs und privatkapitalistischen Arbeits- und Lebensweisen, zwischen Zentralismus und Separatismus hervorgeht.

Diese Entwicklung eröffnet also nicht etwa einen Weg zurück in eine vor-industrielle bäuerliche, nomadische, handwerkliche oder irgendwie naturhafte Romantik, sondern zwingt uns voran auf den Weg einer Symbiose von entwickelter industrieller Groß-Produktion und Selbstversorgung im individuellen wie im kommunalen Bereich.

Symbiose bedeutet dabei nicht etwa Verschmelzung, sondern gemeinsame Existenz durch gegenseitiges Aufeinander-Angewiesen-Sein, durch wechselseitige Ergänzung und Unterstützung auf Basis von Gegenseitigkeit.

(also in etwa im Sinn von >globales Dorf und Mutterstadt<, FN)

Was auf diese Weise entsteht, muss sich von der jetzt herrschenden Gesellschaftsordnung notwendigerweise prinzipiell unterscheiden. Die Natur kann in ihr nicht Gegenstand hemmungslosen, vernichtenden Verbrauchs sein, sondern muss zur Partnerin werden, um deren ständige Erneuerung die Menschen sich im eigenen Interesse bemühen müssen; Arbeit kann darin nicht nur der für einen Lohnempfang notwendige Verkauf von genormten und verkrüppelten Teiltätigkeiten sein, sondern muss die variable Entfaltung der gesamten Schaffenskraft der Menschen bedeuten. Dass dies nicht nur eine andere Arbeits- und Sozialordnung als die jetzt herrschende, sondern auch prinzipiell andere ethische Kategorien beinhaltet, versteht sich – fast – von selbst. Erich Fromm forderte bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts den Übergang von einer Gesellschaft des „Habens“ zu einer des „Seins“. „Sein statt Haben“ lautete die von ihm entwickelte ethische Linie für eine über den Industrialismus hinausweisende Gesellschaft. In der rauen Wirklichkeit der heutigen Umwälzungen könnte sich das noch etwas realitätsferne „Haben oder Sein“ auch in einer leichter realisierbaren Form, nämlich als ein „Haben durch Sein“ verwirklichen.

Die Voraussetzungen für eine solche, sprechen wir es aus: ökologische Annäherung an die Versorgungsprobleme der Menschheit sind im Schoße der industriellen Gesellschaft herangereift, ähnlich wie seinerzeit das Proletariat im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft herangereift war. Die wachsende Zahl unversorgter Menschen lässt einen existenziellen Druck zur Entwicklung von Selbsthilfe entstehen, lokal und global. Er mündet in Resignation oder hilflosen Terrorismus, wo er keine Organisationsmöglichkeiten findet.

Wo er sie aber findet, und sich mit den Ideen einer ökologisch orientierten Versorgung verbinden kann, entstehen Impulse für eine gesellschaftliche Erneuerung, die über das bisherige „Kapitalismus oder Sozialismus“ hinausweisen. Das gilt für die westliche ebenso wie für die sowjetische Variante der Industriegesellschaft und ihre ehemaligen Einflussgebiete. Die sowjetische Variante, die den Anspruch erhob, eine Alternative zum Kapitalismus zu sein, praktisch aber dessen staatskapitalistisches Spiegelbild wurde, hinterlässt in der heutigen Krise des Industrialismus jedoch neben dem bloßen Einschwenken auf den Kapitalismus auch noch einen zukunftsweisenden Impuls, nämlich eine Hinwendung zur Selbstversorgung auf breiter Front.

Bis zur Oktoberrevolution von 1917 war die Mehrheit der Bevölkerung, also ca. 80% der russischen Menschen, in gemeinwirtschaftlichen Dorfgemeinden organisiert. Sie lebten von dem, was ihnen nach Abgaben an ihre Herrschaften bzw. seit der Bauernbefreiung von 1861 abzüglich der Zinsleistungen an Banken und individuelle Geldverleiher aus der ergänzenden Familienwirtschaft blieb. Die stürmische Industrialisierung Russlands in den Jahren von der Bauernbefreiung 1861 bis zu den Revolutionen von 1905 und 1917, die danach einsetzende, teils mit militärischen Mitteln durchgesetzte Zwangsindustrialisierung, die dabei vollzogene Verwandlung der bäuerlichen Gemeinschaften in industrielle Agrar-Kollektive und die Ausweitung der kollektiven Arbeitsorganisation auf die entstehenden Produktionsbetriebe führten zwar zu extremen Konflikten zwischen diesen traditionellen Formen der Selbstversorgung und dem Anspruch auf Durchsetzung der industriellen Lohnarbeit als Norm. Doch dies alles geschah, ohne die soziale Grundstruktur der Dorfgemeinschaft, also die Gemeinwirtschaft mitsamt ihrer familienwirtschaftlichen Ergänzung aufzuheben. Im Gegenteil: Hofgarten ebenso wie Datscha, also ein Stück Land, das den Städtern als Schrebergarten und den Dorfbewohner/innen zur eigenproduktiven Zusatz-Versorgung hinter dem von ihnen bewohnten Haus zur Verfügung stand, entwickelten sich unter dem Zwang der staatlichen Kollektivierung zum individuellen und familiären Ventil gegenüber dem wirtschaftlichen und politischen Druck von oben. Im Hofgarten wie auf der Datscha hatte man sein eigenes Reich, jedenfalls einen Ansatz dazu. Alle Versuche der sowjetischen Führung, den „Anarchismus“ der so genannten ergänzenden Familienwirtschaft unter Kontrolle zu bekommen, schlugen letztlich fehl: Hofgarten und Datscha waren der private Fluchtweg aus der kollektiven Bewirtschaftung der Sowjetunion, materiell wie ideell. Man war öffentlich arm, privat aber gut versorgt. Schwieg man in der Öffentlichkeit, so blühte in den Familienküchen und der Datscha eine „zweite Kultur der Kommunikation“. Nicht zuletzt aus den Hofgärten, den Datschen und den mit ihnen verbundenen Küchen speiste sich jene soziale Dynamik, die in den 1970er und 1980er Jahren eine Perestroika, das heißt die von Gorbatschow eingeleitete Befreiung persönlicher Initiative möglich machte.

Angesichts der existenziellen Krise der nach-sowjetischen Transformation, die nach den Absichten der Radikal-Reformer seit 1991 zunächst keinen Stein der alten Gesellschaft auf dem anderen lassen, sondern die Wirtschaft durch Liquidierung der kollektiven Strukturen effektivieren sollte, stellte sich den Auslandsbeobachterinnen und -beobachtern die Frage, wieso die russische Gesellschaft angesichts der durch die Reformen entstandenen Desorganisation der Wirtschaft nicht im allgemeinen Chaos versank und keine Hungerkatastrophen ausbrachen.

Der Grund für diese erstaunliche Überlebensfähigkeit der russischen Gesellschaft liegt eben in der besonderen Geschichte und der Aktualität ihrer Gemeinschaftsstrukturen: der traditionellen gemeinwirtschaftlich organisierten Bauerngemeinschaft (russisch: Obschtschina; im Deutschen der Allmende vergleichbar). Vom Zarismus wurde sie über Jahrhunderte als Grundeinheit der Reichsorganisation aufgebaut, besaß aber zugleich das Recht der Selbstverwaltung. Trotz wiederholter Versuche, diese Strukturen zugunsten privater Bauernwirtschaften aufzulösen, hat sich die traditionelle russische Bauerngemeinschaft über die Oktobberrevolution von 1917 hinaus erhalten. Mehr noch: Durch die Oktoberrevolution, endgültig dann durch Stalin, wurde die Obschtschina zur Grundeinheit der sowjetischen Arbeits-, Lebens- und Staatsorganisation. Heute feiert sie als geschlossene Aktiengesellschaft, als Genossenschaft oder auch ohne besonderes Organisationsstatut ihre Wiederentstehung als marktorientierte Versorgungsgemeinschaft. Diese Gemeinschaften sind – wie einst die traditionelle Obschtschina und später die Sowchose – auch heute nur zu einem kleinen Teil, sozusagen lediglich an ihrer Spitze, mit der allgemeinen Geldwirtschaft verbunden. Der größte Teil der Wirtschaft vollzieht sich als selbstorganisierter, unmittelbarer Austausch von Arbeit und Vergütung innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft; mitunter sogar zwischen den Gemeinschaften. Obwohl die Gemeinschaften in ihren Spitzen in der Regel über Geldverkehr verbunden sind, kommt es doch auch hier recht häufig zu produktgebundenen Austauschbeziehungen.

Die herrschende westliche und die am westlichen Fortschrittsverständnis orientierte russische Politökonomie – sogar in ihrer sowjetischen Ausprägung – konnte diese Tatsache bisher nur als Rückständigkeit begreifen. Die russische Politik hatte ja in den zurückliegenden beiden Jahrhunderten die westliche Entwicklung in immer neuen Modernisierungsschüben einzuholen versucht. Den letzten großen Versuch dieser Art machten die Bolschewiki und der darauf folgende sowjetische Staat. Faktisch ist der Umstand, dass Russland die gemeinwirtschaftlich organisierte Vergütungswirtschaft, auf deren Basis die Sowjetunion dann die betriebszentrierte Gemeinschafts- und Planwirtschaft entwickelte, aber keineswegs nur eine Frage der Rückständigkeit, sondern Ausdruck eines anderen historischen Entwicklungsweges. In dessen Verlauf wurde die Allmende nicht aufgelöst, sondern über mehrere Wandlungsstufen zum Zentrum des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens entwickelt. Hieraus resultiert sowohl die Krassheit wie auch der exemplarische Charakter der heutigen russischen Krise. Denn diese gewachsenen Gemeinschaftsstrukturen können weder bruchlos noch vollständig in eine Marktwirtschaft westlichen Typs umgewandelt werden, auf dem die Menschen im Wesentlichen nur noch über das Geld miteinander verbunden wären. Angesichts der weltweiten Krise des Industrialismus stellt sich zudem die dringende Frage, ob eine Umwandlung in „pure Marktwirtschaft“ überhaupt wünschenswert wäre.

Man könnte meinen, mit dem Ende der Sowjetunion sei die Sonderrolle Russlands ausgespielt und alles könne nun seinen „kapitalistischen Weg“ gehen, auf dem auch Russland sich einfinden werde, „wie alle zivilisierten Staaten“. Der Einwand liegt nahe, ist üblich und verständlich, nur hält er der geschichtlichen Dialektik nicht stand: Zweifellos wird Russland selbst wohl noch lange mit einer Dynamik der Individualisierung konfrontiert sein, denn trotz der heute dort entstehenden Mischformen ist die während der letzten siebzig Jahre mit Gewalt erzwungene Verstaatlichung und die damit einhergehende Diskreditierung der kollektiven Traditionen nicht einfach abzuschütteln. Ebenso zweifellos aber bringen die westlichen Gesellschaften durch ihre schon seit langem fortschreitende ökonomische Atomisierung und soziale Anonymisierung eine aktuelle wirtschaftliche Notwendigkeit und ein tiefes kulturelles wie mentales Bedürfnis nach Zusammenschluss, nach gegenseitiger Hilfe der aus dem Produktionsprozess Ausgestoßenen, das heißt nach Wiederanschluss an einen gemeinschaftlichen Prozess der Herstellung der Lebensgrundlagen hervor. Der globale Privatisierungsschub, der dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie dem Zerfall der westlichen linken und im weiteren Sinne sozialdemokratischen Bewegungen folgte, verstärkt diese Tendenz. Gleichzeitig entfiel der immerhin über mehrere Generationen bestehende Zwang zur Abgrenzung vom sowjetischen Modell. Dies alles führte in den letzten Jahren in ehemals dem globalen „Westen“ zugeordneten Gesellschaften zu einem Boom von Gemeinschaftsbildungen der vielfältigsten Art. Diese Entwicklung hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht.

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, lautet die Essenz in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Ich denke, Emanzipation von der Lohnarbeitsgesellschaft ist da erreicht, wo dieser Satz ohne Diskriminierung ausgesprochen und auch gelebt werden darf. Den Raum dafür muss die Versorgungsgemeinschaft schaffen.

Letztlich ist die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft als Chance zu begreifen, endlich zu einem Zusammenleben zu gelangen, wie nicht nur Schiller es sich erträumt hat. Ansätze, Möglichkeiten und lebendige Beispiele gibt es allerorten. Dies ist mit der Aufforderung gemeint, aus der Not eine Tugend zu machen. Heute geht es nicht mehr darum, neue Utopien zu formulieren, sondern zu konkretisieren, was lange schon als notwendig erkannt ist, und die vielen Ansätze, die es zu dessen Verwirklichung bereits gibt, ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Um auch jene aufzurütteln, die den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben und denen Mut zu machen, die glauben, sie könnten nichts ändern, weil sie allein stünden. Dieser Weg ist – wie Elmar Altvater richtig formuliert hat – kein „Sturm auf den Winterpalast“ , er ist vielmehr ein lang andauernder Prozess der kulturellen Umbewertung und Umwälzung. Dazu gibt es aber keine Alternative. Der Gewinn liegt in einer unmittelbaren Erhöhung der Lebensqualität, jedenfalls sofern man darunter etwas anderes versteht, als einen sich selbst auf immer höherer Stufenleiter reproduzierenden Konsum, nämlich Freude am eigenen Leben und an der Lebensfreude anderer.



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