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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2020-06-04


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Social Scoring in China

Termin: 4. Juni 2020 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-13 oder virtuell im BBB-Raum https://conf.informatik.uni-leipzig.de/b/gra-y36-wd4

Thema: Daniel Helmrich: Social Scoring in China

Ankündigung

Im Vortrag soll auf die derzeit stattfindende Entwicklung zum Aufbau eines gesellschaftsumfassenden Sozialkredit-Systems in China eingegangen werden. Dazu soll zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff "Social Scoring" zu verstehen ist, welche Verbindung zu Konzepten wie Gamification und Nudging besteht, und in welcher Form entsprechende Systeme in westlichen Demokratien anzutreffen sind. Anschließend folgt eine Beschreibung der bereits durchgeführten Maßnahmen zur Errichtung des chinesischen Sozialkredit-Systems, durch welche Charakteristiken es sich auszeichnet, wie sich diese von vergleichbaren Systemen unterscheiden, und welche zukünftigen Pläne die Kommunistische Partei Chinas verfolgt. Daraufhin werden die Auswirkungen auf die chinesische Gesellschaft und die dortige Akzeptanz der Maßnahmen näher beleuchtet. Im Anschluss wird der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis diese Form der technischen Datenauswertung und -überwachung mit demokratischen Grundsätzen, wie Privatsphäre und Datenschutz, steht. Diese Problematik soll auch die Grundlage für die folgende Diskussion darstellen.

Daniel Helmrich, 27.05.2020

Anmerkungen

Eine akademischen Analyse des Social Scoring in China steht vor dem Problem, das in Westeuropa verbreitete Chinabild nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Elementare Zahlen zeigen die Größe und Dynamik eines digitalen Binnenmarktes: 900 Millionen Kunden, über 800 Millionen nutzen mobile Zahlverfahren auch im Alltag, die Durchdringungsrate und Reichweite digitaler sozialer Netzwerke geht weit über das in Europa übliche Maß hinaus. Die Great Chinese Firewall hat dafür gesorgt, dass in Westeuropa verbreitete Dienste wie Google, Amazon, Facebook und Whatsapp durch entsprechende chinesische Eigenentwicklungen ersetzt sind. Social Scoring ist also nur ein kleiner Baustein eines viel umfassenderen chinesischen Experiments der bewussten (politischen?) Gestaltung sozialer Verhältnisse.

Die chinesische Führung hat dabei in den letzten 20 Jahren systematisch einen eigenen Technologiestack aufgebaut, aus dem heraus sie nun dabei ist, den Westen technologisch zu überholen. Eine wesentliche Komponente bildet dabei die ingenieur-technische Gestaltung sozialer Prozesse in einer Mischung von marktwirtschaftlichen Freiheiten und der Einhegung negativer Folgen solcher Freiheiten (oder was dafür gehalten wird). Ein solcher Gestaltungsanspruch war prägend für alle Sozialismusexperimente des 20. Jahrhunderts, wobei dahingestellt bleiben kann, ob diese etwas anderes waren als etatistische Spielarten einer bürgerlichen Gesellschaft und damit nur "ein mittlerweile abgestorbener Seitentrieb am lebendigen Baum des Kapitalismus", wie dies Robert Kurz analysiert.

Vor vergleichbaren Gestaltungsfragen sozio-ökonomischer Beziehungen stehen heute auch Gesellschaften des Modelltyps "westliche Demokratie". Die Ängste und Befürchtungen vor einem und Widerstand gegen einen "Überwachungsstaat" seien dabei deutlicher ausgeprägt als in China – so eine der ersten Feststellungen im Vortrag. Darauf zielte auch meine erste Frage in der Diskussion – "wer überwacht wen"? Diese Frage blieb leider weitgehend unbeantwortet, obwohl klar ist, dass Subjekte, die von Datenerhebungsstrukturen partizipieren, zu diesen ein ganz anderes Verhältnis entwickeln als Objekte der Lenkung und Steuerung durch solche Instrumente. Die alte Frage an das eigene Verhältnis zu technischen Systemen – Amboss oder Hammer sein – ist allerdings nur in sehr geringem Maße eine der eigenen kognitiven Konstitution zur Nutzung von Freiheit, sondern in viel größerem Maße eine der Bedingungen der Möglichkeiten zu kooperativem Handeln.

In der Vorlesung steht in der Beschreibung kooperativen Handelns das Spannungsverhältnis zwischen begründeten Erwartungen und erfahrenen Ergebnissen im Mittelpunkt. Beides muss interpersonal vermittelt sein. Diese Vermittlung beruht wesentlich auf gegenseitiger Beobachtung und damit – bei asymmetrischen Machtverhältnissen – auch Überwachung. Die Frage "Wer überwacht wen?" kann also nur sehr simplifizierend mit "Der Staat seine Bürger" beantwortet werden. Nudging und Gamification sind zwei auch in westlichen Demokratien verbreitete Formen der ingenieur-technischen Gestaltung von Prozessen der Zurichtung von Menschen für konkrete Aufgaben, etwa, wenn es darum geht, Arbeitnehmer für die Übernahme gewisser Rollen zu qualifizieren oder Studierende auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten. Die Ambivalenz und das widersprüchliche Verhältnis von Zwang und Freiheit wird sichtbar.

In diesem Sinne existieren auch in westlichen Demokratien "Überwachungsstrukturen", die vor allem eines bewirken – sie schränken den Raum möglicher privater Entfaltung ein, um den Raum kooperativer Entfaltung zu vergrößern. Damit trägt aber der Privatsphärenbegriff, der im Vortrag als "Raum zur freien Persönlichkeitsentfaltung" entwickelt wurde, nicht mehr, denn die Mehrzahl der Entwicklungspotenziale ergeben sich gerade aus kooperativen Ermöglichungsstrukturen und sind somit stets nur als Einheit von Freiraum und Eingrenzung zu haben. Freiheit ist in diesem Verständnis die (mentale und soziale) Fähigkeit zu verantwortungsbeladener Bindung.

Derartige Verhältnisse lassen sich bis zu einem gewissen Grad bewusst gestalten, wobei auch der chinesischen Führungsschicht die begrenzten Gestaltungspotenziale streng hierarchischer Strukturierungen mit viel Zwang und wenig Freiheit bewusst sind. Ein neuer Aspekt ergibt sich, wenn auch kooperative Subjekte wie Unternehmen und Behörden als Objekte von Beobachtung genauer betrachtet werden. Das kam im Vortrag deutlich zu kurz, obwohl Techniken des Social Scoring leicht (und vielleicht sogar leichter) auch auf kooperative Strukturen angewendet werden können, um eine Steuerungswirkung zu entfalten. Eine offene Kultur eines solchen Scorings hat enge Bezüge zu Open Culture und wird von der chinesischen Führung insbesondere eingesetzt, um Korruption zurückzudrängen. In einer bürgerlichen Rechtsordnung genießen derartige kooperativen Subjekte ("juristische Personen" im BGB) deutlich geringeren Schutz als Individualsubjekte, auf die sich der ganze grundgesetzlich geschützte Bereich der Persönlichkeitsrechte ausschließlich bezieht.

"Inwiefern ist es keine staatliche Willkür mehr, wenn eine Partei quasi allein über das Land entscheiden kann?" wurde in der Diskussion gefragt. Auch eine solche staatliche Führungsstruktur ist den Widersprüchen zwischen Zwang und Freiheit ausgesetzt, und zwar nicht nur im Verhältnis von "Partei" und "Volk", sondern auch innerhalb jener Partei.

Hans-Gert Gräbe, 06.06.2020


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