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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2019-10-24


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Tatsachen, Wahrheit, Wissenschaft

Termin: 24. Oktober 2019 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-11

Thema: Tatsachen, Wahrheit, Wissenschaft. Diskussion

Ankündigung

Die Rolle von Sprache als Verständigungsform zum gemeinsamen Handeln in einer hoch technisierten Welt wurde in der ersten Vorlesung deutlich. In der Debatte um "Fake News" und "alternative Fakten" prallen allerdings Sichtweisen auf die Welt zusammen, in denen eine so hohe Beliebigkeit von Ansichten und Begründungszusammenhängen postuliert wird, dass die Verständigung hinter dem je privaten Handeln deutlich zurücktritt. Es greift allerdings zu kurz, hier geringschätzig auf "jene Irren" (die inzwischen auch zu Taten wie in Halle/S. fähig sind) herabzuschauen, denn das Problem reicht etwa mit dem Thema Alternativmedizin weit in die wissenschaftlichen Grundlagen hinein, auf denen unsere technisierte Welt letztlich gegründet ist.

Wir wollen versuchen, in der Diskussion zu den Themen Tatsachen, Wahrheit und Wissenschaft (wieder) etwas Boden unter die Füße zu bekommen.

Hans-Gert Gräbe, 19.10.2019

Anmerkungen

In der Diskussion ging es zunächst darum, wie man sich den Begriffen Tatsachen und Wahrheit nähern kann, ohne dabei in die vielen offensichtlichen Fallen zu tappen.

Es ist sicher sinnvoll und realistisch, davon auszugehen, dass es so etwas wie Tatsachen im Sinne von "das, was wirklich passiert ist", gibt, dass aber jeder Bericht über derartige Tatsachen notwendig die spezifische Sicht des Berichtenden präsentiert. Jede, auch gemeinschaftliche Erinnerung an derartige Tatsachen trägt also die Differenz zwischen Erinnertem und Gewesenem in sich. Auch ein Gerichtsverfahren trägt dem mit der Konstruktion des Anscheinsbeweises Rechnung, indem es den streitenden Parteien prozessual Vortragsrechte einräumt, mit denen die schlichtende dritte Partei – der Richter – überzeugt werden muss. Über den Ausgang entscheidet oft ebenso die genaue Kenntnis prozessualer Möglichkeiten und Verbote (insbesondere "Verwertungsverbote" und "Beweisverbote") wie die "Tatsachen" selbst. Über eine weitere, die forensische Dimension einer solchen Wahrheitsfindung wurde in der Diskussion nicht gesprochen.

Dafür, dass wir uns mit dem Tatsachenbegriff auf derart schwankendem Boden bewegen, ist es allerdings erstaunlich, zu welchen kooperativen Praxen Menschen dennoch fähig sind. In einem zweiten Strang der Diskussion spielten Ansätze wie Kontextualisierung, Relevanz und Stringenz eine wichtige Rolle, wenn es um ein gemeinsames Verständnis "der Welt" und damit interpersonale Sprachformen geht, mit denen wir unsere Praxen begleiten. Die Klassiker "Das Wetter" (automatisch wird nur über das lokale Wetter geredet – implizite Kontextualisierung) und der "in China umgefallene Sack Reis" (keine Relevanz für unsere Praxen) leiteten die Argumentation ein.

Mit der Stringenz und damit einer begründeten Argumentation wurde es schon schwieriger, wenn es um den Maßstab geht, an dem die Stringenz zu messen ist, wie sich also in einer solchen Richtung Begriffe wie Wahrheit und Wissenschaft gründen lassen. In meiner Ankündigung hatte ich bereits die Alternativmedizin als weiteres herausforderndes Beispiel aufgefahren. Eine kontroverse Diskussion zu dem Thema konnte sich leider nicht entfalten, da die Abgrenzung zwischen Schul- und alternativer Medizin zu vage schien. Es bleibt dennoch die Frage, ob das (m.E.) deutliche Auseinanderfallen von Stringenzansprüchen an Begründungen auf beiden Gebieten diese wirklich nicht scheidet und damit eine derartige Unmöglichkeit von Abgrenzung ein generelles Charakteristikum von Wissenschaft bleibt, so "entwickelt" diese auch sein mag.

Stattdessen ging es um die Begriffe Wahrheit und Beweisbarkeit, mit denen wir uns schon weit in die interpersonalen Sprachformen hineinbewegen, da derartige Fragen überhaupt nur in Theoriekontexten besprochen werden können, die das nötige Rüstzeug für Beweisführungen liefern. Ein wesentlicher Streitpunkt war dabei die Frage, ob Physiker anders "beweisen" als Mathematiker. Dazu wurde zunächst noch einmal auf den Versuch von Mathematikern geschaut, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr eigenes "Beweisen" auf strikt logischer Grundlage zu entfalten. Seit Gödels Sätzen ist klar, dass dies an prinzipielle Grenzen stößt, wenn diese Logik auf ihre eigenen Grundlagen angewendet wird.

Wir sind damit bei Poppers Frage, ob wir überhaupt nur erkennen können, was nicht wahr ist, wir einen Stand der Technik also vor allem negativ fassen müssen, das bereits Falsifizierte nicht als dumme Fehler zu wiederholen. Was aber bedeutet Falsifizieren? Ist dies anders denn als gesellschaftlicher Konsensprozess zu denken, in dem dann auch differierende Interessen und Macht eine wesentliche Rolle spielen? Und bedeutet die Konzentration auf Falsifizieren nicht auch, dass alle Forschungsfragen, die noch nicht falsifiziert sind, gleich berechtigt sind? Lassen sich mit einem solchen Wissenschaftsverständnis Ressourcen auf brennende Fragen konzentrieren? Wie kommen Entscheidungen zustande, welche Fragen brennend sind? Ist Poppers Ansatz nicht ein Spiegelbild einer individualistischen bürgerlichen Gesellschaft, in der alles erlaubt ist, was nicht verboten wurde, und jener Begriff von "Freiheit" die Basis für konkurrierende Implementierung von Ideen und Plänen Einzelner oder von Gruppen ist? Die angenehm regulierende Wirkung der "unsichtbaren Hand" kommt dabei zunehmend an ihre Grenzen ...

Hans-Gert Gräbe, 05.11.2019


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