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Neue Formen kooperativen Handelns

Termin: 23. April 2019 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-13

Jonas Litzinger: Kreativwirtschaft

Ankündigung

Die ästhetische Praxis ist kein statisches, kulturelles System einer Gesellschaft. Ebenso wenig hat sie bis heute eine lineare Entwicklung vollzogen. Die Art und Form ihrer Ausführung steht im direkten Zusammenhang mit gesellschaftlichen Produktionsprozessen und fundamentalen Veränderungen der Kommunikation – vor allem seit ihrer Ökonomisierung. Creative Industries – hierzu gehören z.B. Mode, Werbung und Design – haben sich von klassisch kapitalistischen Produktionsprozessen gelöst. Sie streben keine Schöpfung von Originalem, sondern ein „Neuarrangement von Zeichen, sinnlichen Impulsen und Affekten“ (Reckwitz 2014: 192) an. Digitalität als Motor der Kreativindustrie zu betrachten liegt hierbei nahe, da sich die Möglichkeit des copy and paste innerhalb der letzten 30 Jahre rasant entwickelt hat. Nun stellt sich aber die Frage welche Auswirkungen ein digitaler, affektiver Kapitalismus auf die ästhetische Praxis besitzt.

Zum Thema „Digitalisierung in der Kultur- und Kreativwirtschaft“ veröffentlichte das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes im Jahr 2017 ein Dossier mit Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung, in dem folgende Feststellung getroffen wird:

„Die Kultur- und Kreativwirtschaf kann als eigenständige Branche bisher durchaus mit den großen klassischen Wirtschaftszweigen mithalten, was die ökonomische Wertschöpfung betrifft. Im Zuge des digitalen Strukturwandels besteht die große Herausforderung für sie allerdings darin, ihre eigenen Identitäten entsprechend neu zu definieren und sich insgesamt neu zu platzieren“ (Söndermann 2017: 17).

Als einzige spezifizierte Herausforderung wird nur der finanzielle Zugang einzelner Akteure auf dem Kreativmarkt angedeutet. Für die Vermarktung von Subjekten wie Objekten werden durch digitale Netzwerke jedoch eine Reihe weiterer Anforderungen gestellt. Eine grundlegende Währung heißt neuerdings Sichtbarkeit, welche eng verbunden ist mit dem Prinzip der Singularität. Welche Vermarktungsstrategie creative industries wählen, ist von den sich im Netz frei bewegenden Konsumenten abhängig. Sie besitzen die Möglichkeit, sich über das kulturelle Angebot eine persönliche Einzigartigkeit, also Singularität, aufzubauen (vgl. Reckwitz: 244f). Hier schließt sich der Kreis zum affektiven Kapitalismus: Die Nutzungsprofile könne via data tracking ausgewertet (vgl. ebd.: 253ff) und für die ''creative industries'' ökonomisch nutzbar gemacht werden.

Literatur

  • Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2016.
  • Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017.
  • Söndermann, Michael: Digitalisierung in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Ausgewählte Positionen im Überblick. Köln: Büro für Kulturwirtschaftsförderung (BMWi) 2017.
Weiterführende Literatur
  • Mangematin, Vincent; Sapsed, Jonathan; Schüßler, Elke: Disassembly and reassembly: An Introduction to the special issue on digital technology and creative industries. 2014.
  • Simanowski, Roberto: Digital Art and Meaning. Reading Kinetic Poetry, Text Machines, Mapping Art, and Interactive Installations. University of Minnesota Press: 2011.
  • Simanowski, Roberto: Reading Moving Letters: Digital Literature in Research and Teaching. A Handbook (Mitherausgeber). Bielefeld: Transcript 2010.
  • Simanowski, Roberto: Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft. Kultur – KunstUtopien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008.
Jonas Litzinger, 15.04.2019

Anmerkungen

Im Vortrag ging es um den äußerst schillernden Begriff der Kreativwirtschaft, der dort als gegeben hingenommen bzw. aus den Arbeiten von Reckwitz importiert wurde. In welchem Verhältnis ein derartiger Zugang zum Kreativitätsbegriff der Vorlesung oder gar zur Analyse der historischen Genese des Begriffs in (Stalder 2016) steht, blieb auch in der Diskussion völlig offen. Mein vorsichtiger Versuch, dies zu politischen Praxen eines Clusters der IT-, Medien- und Kreativwirtschaft der Stadt Leipzig oder zum Begriff einer Kultur- und Kreativwirtschaft im Kontext der VGR-Statistik zu relatieren, blieb vollkommen unverstanden und führte zur Frage, auf welcher Abstraktionsebene die Theorien von Reckwitz überhaupt analysiert werden können.

Eine solche Analyseebene muss allerdings zunächst abgearbeitet werden, um den Metakonflikt – die provisorische Arbeitsthese, dass es sich bei Reckwitz' Ansatz um eine verquere Beschreibung von Prozessen der Wirklichkeit handele, steht im klaren Konflikt zur praktisch-politischen Bedeutung des Ansatzes selbst – überhaupt thematisieren zu können. Diese argumentative Ebene konnte weder im Vortrag noch in der Diskussion erreicht werden, auch nicht durch die vorsichtige Intervention von Herrn Kleemann, der auf die historische Genese der Argumentationen von Reckwitz und damit verbundene Bedeutungsbilder von Begriffen einging. Diese Bedeutungsbilder erschließen sich nicht allein aus der Perspektive des "Alltagsverstands", da dieser "Alltagsverstand" ja bereits mit den Problemen des Metakonflikts – die Gültigkeit der provisorischen Arbeitshypothese vorausgesetzt – aufgeladen ist. Kurz, eine große Herausforderung an die Selbstreflexionsdimension einer rationalen akademischen Argumentation.

In der Diskussion der historischen Genese der Begrifflichkeit wurde noch einmal deutlich, was auch schon bei der Diskussion im Forschungsseminar Innovationsmethodiken eine Rolle spielte und bereits in (Lukácz 1953) analysiert wird – die eigenartige Verquickung von zunehmender Rationalität und Rationalisierung des Produktionsprozesses im Zuge des technischen und technologischen Fortschritts mit einer zunehmenden Irrationalität übergreifender Gesellschaftsvorstellungen auf der Basis von Geniekult und Übermensch-Phantasien (nicht nur bei Nietzsche). Herr Kleemann wies auf die Wurzeln solcher Verquickungen bereits in der Zeit der Spätromantik des ausgehenden 19. Jahrhunderts hin, die Wurzeln reichen aber deutlich weiter zurück, wie in (Losurdo 2010) genau herausgearbeitet wird.

Im Vortrag begann die historische Argumentationskette "vom Fordismus zum Postfordismus" mit wichtigen Weichenstellungen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts (Fordismus), wo sich die technische Weiterentwicklung vor allem auf produktionsorganisatorische Innovationen konzentrierte, auf deren Basis standardisierte Massenproduktion und in deren Folge auch Massenkonsum überhaupt erst möglich wurden. 100 Jahre Bauhaus – die Parallele war Anlass, aus dieser Perspektive auf dieselben Prozesse zu schauen und die Reckwitz-Begriffe "Rationalität" und "Ästhetik" von jener Seite her zu beleuchten. Die massive Konzentration der Bauhaustradition auf Funktionalität evozierte die These, dass zu jener Zeit eine klare Spaltung zwischen Funktionalität und Ästhetik ihren Anfang nähme. Dies ist allerdings eine sehr provisorische These, da auch die Bauhausmeister mit ihren Werken klare ästhetische Ansprüche verbinden, die auf die Ablösung ästhetischer Fragen von praktischer Gegenständlichkeit des Impressionismus oder gar des Dadaismus reagieren. Die Gefahr, dass im Spannungsfeld zwischen Funktionalität und Ästhetik in Zeiten knapper Kassen letztere arg unter die Räder geraten kann, zeigen die Wohntürme der 1960er Jahre in Ost wie West. Wenn Reckwitz einen "Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung" konstatiert, dann wäre das auf einem solchen Hintergrund genauer darzustellen. Ob Reckwitz dies faktisch unternimmt, sei dahingestellt, im Vortrag und der Diskussion spielte diese Frage jedenfalls keine Rolle.

Allerdings darf bezweifelt werden, dass Reckwitz mit seinem Begriffsinstrumentarium überhaupt bis zu einer solchen Ebene vordringen und den oben skizzierten Metakonflikt sprachlich fassen kann. Am Vormittag hatte ich in der Vorlesung dazu mit den Begriffen Welt und Wirklichkeit einen anderen Zugang präsentiert, um die von Reckwitz diagnostizierte "Gesellschaft der Singularisierung" zu analysieren. Welt steht dabei für die Vielfalt der "privaten Welten" als Beschreibungsformen, die sich in der Einheit der Wirklichkeit praktisch bewähren müssen. Ähnliche Ansätze finden sich auch bei anderen Autoren, etwa bei (Hardt/Negri).

Ob dieser Bewährungszusammenhang als "affektiver Kapitalismus" wie bei Reckwitz hinreichend genau charakterisiert ist, kann als Frage stehen bleiben. Klar ist, dass Affekte – verstanden als der vorsprachliche, neuro-hormonelle Ausdruck praktischer Erfahrungen – dabei eine wichtige Rolle spielen. In welchem Umfang eine Überbetonung derartiger Aspekte Übermensch-Phantasien perpetuiert und damit zugleich Machtbalancen und gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse ausblendet, kann ebenso als Frage stehen bleiben. Der hier zu Tage tretende Zusammenhang zwischen Besonderem und Allgemeinem als Zusammenhang zwischen privatem Verfahrenskönnen einzelner Individuen und dem technischen und sozialen Potenzial einer vernetzten Menschheit – der "planetaren Wirkung des Menschen als Gattungswesen" (Wernadski 1938) – ist bei Reckwitz aber definitiv unterbelichtet.

Literatur:

  • Michael Hardt, Antonio Negri (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus.
  • Michael Hardt, Antonio Negri (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt am Main: Campus.
  • Michael Hardt, Antonio Negri (2018): Assembly. Die neue demokratische Ordnung. Frankfurt am Main: Campus.
  • Domenico Losurdo (2010): Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus. Köln: Papyrossa Verlag.
  • Georg Lukács (1953): Die Zerstöung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Berlin, Weimar: Aufbau Verlag.
  • Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität. Frankfurt: Suhrkamp Verlag.
  • Wladimir Wernadski (1938): Der wissenschaftliche Gedanke als planetare Erscheinung. ( Russisches Original, englische Übersetzung)
Hans-Gert Gräbe, 28.04.2019


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