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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2018-12-19


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Phänomene gesellschaftlicher Digitalität

Termin: 19. Dezember 2018, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-11

Thema 1: Clemens Geissert: Filterblasen und Echokammern

Thema 2: Lucas Oppat: Abmahnungswesen

Ankündigung

Thema 1: Filterblasen und Echokammern

„Die Algorithmen, die unsere Werbeanzeigen arrangieren, beginnen auch unser Leben zu arrangieren.“ (Eli Pariser) - Soziale Netzwerke spielen für viele Personen eine große Rolle und werden von vielen zur Informationsbeschaffung verwendet. Die Benutzer dieser Netzwerke befinden sich jedoch (meist) unwissentlich in einer individuellen Filterblase, weshalb sie lediglich einen personalisierten Zugang zur (Nachrichten-)Welt besitzen und überwiegend Informationen finden, die ihre bestehenden Ansichten verstärken. Doch zu welchen gesellschaftlichen Auswirkungen führt diese Personalisierung des Internets und macht diese jeden Einzelnen zu einem weniger mündigen Bürger? Sind dadurch sogar Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr?

Innerhalb des Vortrags wird zunächst versucht, die Begriffe der Filterblase und der Echokammer zu charakterisieren, um deren mögliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft in Zeiten des Aufstiegs sozialer Medien bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust journalistischer Medien anhand von einigen Beispielen zu untersuchen.

Clemens Geissert, 13.12.2018

Thema 2: Abmahnungswesen

Am 25.Mai 2018 trat die EU-DSGVO in Kraft, kaum vier Tage später wurde bei ZDF unter dem Titel „Vorsicht Abmahnung! Wie Online-Händler ruiniert werden“ über das Abmahnungswesen in Deutschland berichtet.

Der Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, was dieses Abmahnungswesen überhaupt ist und wie es zustande kommt. Der Begriff der Abmahnung wird erläutert und in verschiedenen Kontexten betrachten. An einem Beispiel wird kurz erläutert, wie eine Abmahnung entsteht. Im Weiteren wird über sogenannte Abmahnungsvereine geredet und wie das System des Abmahnungswesens im Rahmen des Digitalen Wandels seine heutige Gestalt angenommen hat.

Lucas Oppat, 13.12.2018

Anmerkungen

Im ersten Vortrag ging es um die Problematik von Filterblasen. In der Ankündigung heißt es

Die Benutzer dieser Netzwerke befinden sich jedoch (meist) unwissentlich in einer individuellen Filterblase, weshalb sie lediglich einen personalisierten Zugang zur (Nachrichten-)Welt besitzen und überwiegend Informationen finden, die ihre bestehenden Ansichten verstärken.

In der Diskussion wurden schnell zwei Dimensionen der Problematik deutlich. Die erste wurde mit dem Begriff normale Filterblase belegt und bezieht sich darauf, dass positives Feedback in sozialen Kontakten persönlich höher bewertet wird als negatives und sich so selbstverstärkende soziale Kartellstrukturen von Menschen mit kompatiblen Erfahrungshorizonten herausbilden. Das gilt auch in realweltlichen sozialen Netzwerken – die Abgrenzung wird im Vortrag nicht explizit gezogen, aber mit der Referenz auf "Algorithmen" doch klar konnotiert. Der enge Zusammenhang mit dem Begriff der Fiktion aus der Vorlesung wurde deutlich, wobei allerdings "gesellschaftliche Normalitäten" selbst wieder zu kontextualisieren sind und die Kontexte der "verkürzten Sprechweisen über gesellschaftliche Normalität" auch im realen Leben als "Filterblasenstrukturen" zum Ausdruck kommen. Also kein neues Phänomen und eng an Handeln in gemeinschaftlichen Praxen gebunden.

Die neuen Sichtbarkeiten dieser Phänomene können zwei Ursachen haben:

  1. Sie können einer generell höheren Sichtbarkeit durch Transparenzeffekte des Web entspringen. Wo unser Handeln massive digitale Spuren hinterlässt, sind diese technisch einfacher zugänglich als andere Spuren, nicht nur für die maschinelle Auswertung.
  2. Es kann auch sein, dass der digitale Wandel alte Kontexte aufbricht und so zu Ungewissheit und Unsicherheit führt, in der alte Gewissheiten auf den Prüfstand gehören und sich damit alte Filterblasenstrukturen auflösen.
Diese Frage müsste man eigentlich klären, bevor man sich an Analysen wagt, ob "Facebook unser Denken manipuliert" u.ä.

Wenn "normale Filterblasen" etwas mit Institutionalisierungsprozessen und Rollenbildern zu tun haben – beides spielte in der Vorlesung im Kontext der Institutionalisierung von Verfahrenswissen in Verfahrensweisen und der Ausprägung von Teilidentitäten eine wichtige Rolle –, so wäre auch genauer zu analysieren, ob maschinell generierte Empfehlungen, mit denen uns versprochen wird, das Leben zu erleichtern, nicht doch einen rationalen positiven Kern enthalten. Die Janusköpfigkeit jeder Technologie müsste dabei natürlich mitgedacht werden – hier insbesondere das Missbrauchspotenzial in elaborierten Machttechniken, in deren Kontext mit den neuen technischen Möglichkeiten zur Wahlbeeinflussung aktuell massiv experimentiert wird. Die Einhegung derartiger Janusköpfigkeiten erfolgte noch immer im Zuge eines weiter fortschreitenden Erkenntnisprozesses, wenn man diesen Begriff nicht zu eng fasst und dessen Wirkung bis hin zu seinen praktischen realweltlichen Konsequenzen verfolgt.

Welche neuen Dimensionen eröffnen sich uns in diesem Bereich mit "künstlicher Intelligenz", die letztlich nicht mehr leistet als Mustersuche in großen Datenbeständen? In der Diskussion wurde deutlich, dass hier zwei Dimensionen wichtig sind:

  1. In sozialen Netzen hinterlassen reale Menschen kontextualisierte digitale Spuren ihres realen Verhaltens und erzeugen damit eine gemeinschaftlich nutzbare Datenbasis ihres realen Verhaltens in diesen Kontexten (etwa ihres Kaufverhaltens), das bisher durch aufwendige soziologische Verfahren allenfalls näherungsweise erfasst werden konnte. Die Prognosebasis hat sich also massiv verbessert.
  2. Maschinelle Lernverfahren heutigen Zuschnitts beziehen sich grundsätzlich auf relationale Aspekte. "Overfitting" ist ein häufig beobachtetes Phänomen – das aus den Trainingsdaten "Erlernte" hat auf neuen Daten eine Erfolgsquote von 50% und ist damit nicht besser als einfaches Raten. Die Kopplung solcher Netze mit realweltlichen Netzwerken kann allerdings einen klar selbstverstärkenden Effekt haben – wenn mehrheitlich den Empfehlungen gefolgt wird, dann transformiert sich das soziale Netz in Richtung des propagierten Bildes und wir sind mit dem Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung konfrontiert.
Es liegt also wieder einmal nicht an der Technik, sondern an den Anwendern der Technik, nicht in solche Fallen zu tappen. Da es sich um Netzwerkeffekte handelt, sind sie allerdings auf der Ebene von Individualsubjekten praktisch nicht lösbar.

Aktueller Anlass, sich im zweiten Vortrag mit den Thema Abmahnwesen zu beschäftigen, sind die rechtlichen Probleme und auch eine neue Abmahnwelle, die seit Mai 2018 im Zusammenhang mit der DSGVO Netzakteure verunsichert. Das Problem ist allerdings nicht neu, denn wer handelt, der macht Fehler und wird damit rechtlich angreifbar. Handeln im digitalen Universum hinterlässt überdies massiv digitale Spuren und ist somit in Größenordnungen transparenter als nicht-digitales Handeln. Abmahnen wird damit ebenfalls um Größenordnungen einfacher – ich muss als Anwalt nur einen Bot entsprechend konfigurieren und aufsetzen, um den Prozess bis hin zum Erstellen entsprechender Abmahnschreiben weitgehend zu automatisieren.

Wir landen damit bei einem grundsätzlichen Widerspruch der bürgerlichen Rechtsordnung – in welchem Umfang sind für funktionierende soziale Zusammenhänge Fehler im Handeln zu tolerieren, was sind überhaupt Fehler gegenüber differenten Deutungen realweltlichen Handelns und wer darf sanktionieren?

Die Gesetze, die Abmahnungen zu Grunde liegen (Urheberrecht, Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb), markieren bereits Abweichungen von den "normalen" vertragsrechtlichen Formen, in denen derartige Fragen sonst verhandelt werden. Es werden dabei Machtasymmetrien in derartigen "normalen" Fehlerbehandlungen unterstellt, die durch normative Vorgaben des Gesetzgebers gemildert werden sollen. Eine zivilisierte Fehlerbehandlung auf vertragsrechtlicher Grundlage ist zugleich eine wesentliche kulturelle Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, basiert auf der rechtlichen Gleichheit aller Akteure vor dem Gesetz und ist ein wesentliches Moment der Dämpfung gesellschaftlicher Konflikte, die aus differierenden Interessen und Praxiserfahrungen notwendig erwachsen.

In diesem Sinne ist es nicht im Interesse der Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft, ein überbordendes Abmahnwesen zuzulassen. Ein entsprechender Abwägungstatbestand wird über das rechtliche Konstrukt einer rechtsmissbräuchlichen Abmahnung prozessiert. Ort des Prozessierens dieses Abwägungstatbestands ist allerdings weniger die durch den Gesetztgeber verantwortete Rechtsetzung als vielmehr die etablierte Rechtspraxis, in der Kläger, Anwälte und Richter eine zentrale Rolle spielen.

Im Vortrag wurde deutlich, dass in Abmahnwellen stark darauf gesetzt wird, dass Betroffene genau eine solche rechtspraktische Auseinandersetzung scheuen und die Angelegenheit lieber bereits im Vorfeld eines solchen Auseinandersetzung regeln. Ebenso wurde deutlich, dass es dafür standardisierte "Geschäftsangebote" seitens der involvierten Anwälte gibt, was die hohe Kohärenz geforderter einmaliger Abstandzahlungen in miteinander vergleichbaren "Rechtsverstößen" nahelegt. Die konkrete Inanspruchnahme der mit Abmahnungen verbundenen ordnungsrechtlichen Instrumente wird damit selbst einer vertragsrechtlichen Verhandlung überlassen. Die Wirksamkeit dieser vorgerichtlichen Filterwirkung wird ihrerseits durch gerichtliche Urteilspraxen gesteuert, aus denen sich begründete Erwartungen ableiten lassen, zu welchen erfahrenen Ergebnissen eine gerichtliche Auseinandersetzung als Handlungsalternative voraussichtlich führen würde.

Die Diskussion bewegte sich auf dieser Ebene. Nicht thematisiert wurden veritable Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Widersrpüche auf diesem Gebiet, die sich aus Freizügigkeitserfordernissen auf der einen Seite und eigentumsrechtlichen Schranken auf der anderen Seite als zwei wesentlichen Pfeilern der bürgerlichen Rechtsordnung ergeben. Da geht es dann anders zur Sache, es werden entweder auch polizeiliche Maßnahmen ergriffen ( kino.to, Kim Schmitz) oder aber veritable rechtliche Auseinandersetzungen unter hohem Kapitaleinsatz geführt. Eben Moglen hat diese Dimension in seinem Dot Communist Manifesto eindrücklich beschrieben.

Hans-Gert Gräbe, 23.12.2018


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