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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
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Spekulation und Wissenschaft

Termin: 24. November 2015, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-12

Thema: Spekulation und Wissenschaft. Diskussion.

Anmerkungen

Der geplante Vortrag fiel aus. Statt der alternativ angesetzten Diskussion zu Donna Haraways 1980 veröffentlichtem "Cyborg Manifesto" als wichtigem Kontrapunkt technik-zentrierter Zukunftsspekulationen ging es noch einmal um Ray Kurzweils Transhumanismus-Perspektive und seine Spekulation um eine "Singularität", die im letzten Seminar sehr emphatisch vorgetragen, letztlich aber nicht genauer diskutiert wurde. Es ging um eine genauere Einordnung einer der zentralen Voraussagen über eine "technologischen Singularität", die Ray Kurzweil in einem seiner neueren Bücher (2005) noch einmal ausführlicher entwickelt. Die Singularität, die mit einer "sich unendlich beschleunigenden technischen Entwicklung" begründet wird, ist nach diesen Voraussagen um das Jahr 2045 herum zu erwarten. Die Voraussage habe damit zu tun, dass dann eine "fünfte Phase" der Entwicklung des Universums einsetze, wie dies im einschlägigen Wikipedia-Aufsatz genauer beschrieben wird.

Man könnte ein solches (neues) geozentrisches Weltbild einer Evolution des Universums allein mit dem Verweis auf die Untauglichkeit der alten einfach beseite legen, aber auch die Suggestivkraft pseudomathematischer Argumente und Bilder genauer analysieren, die dabei (wenigstens im Vortrag) mehr als strapaziert wurden. Besonders Begriffe wie exponentielles und superexponentielles Wachstum müssen dabei für Begründungen herhalten, die aus mathematischer Sicht für alleinstehende funktionale Zusammenhänge durchaus ihre logische Berechtigung haben, deren unkonditionierte Übertragung auf die Beschreibung komplexer Entwicklungsmuster dynamischer Systeme aber von den Erkenntnissen der modernen Mathematik über Möglichkeiten und Bedingtheiten von Beschreibungsformen derartiger Systeme als vollkommen unangemessen charakterisiert werden.

Dies scheint jedoch der Suggestivkraft der Kurzweilschen Argumentation nicht im Wege zu stehen. Die Emphase des Vortrags der Argumentation scheint fehlende Wissenschaftlichkeit auf dem Hintergrund eines verbreiteten Wissenschaftsskeptizismus mehr als auszugleichen. Die Bereitschaft, "jene Anspannung der Reflexion zu leisten, die ein Begriff von Wahrheit fordert, der nicht dinghaft und abstrakt der bloßen Subjektivität gegenübersteht, sondern sich entfaltet durch Kritik, kraft der wechselseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt" (Adorno, "Meinung – Wahn – Gesellschaft"), scheint seit jener Beobachtung Adornos weiter unter die Räder gekommen zu sein.

Für das Ziel unseres Kurses – Entwicklung eines besseren Verständnisses des Begriffs rationale wissenschaftliche Argumentation – stellt sich hier eine methodische Frage: Gibt es spezifische Muster, die bei derartigen Argumentationen zu beobachten sind, die eine wissenschaftliche Argumentation aber unbedingt vermeiden muss?

Auffällig an der im letzten Seminar vorgetragenen Argumentation ist insbesondere der dauernde Wechsel von Zeit- und Kausalebenen unter Mitnahme von Begrifflichkeiten aus anderen Bedeutungskontexten. Dies wird in mehreren Schaubildern mit log-linearen Zusammenhängen vorgeführt, wo längs einer solchen Linie der Fokus der jeweiligen Betrachtung dauernd verstellt wird vom ganzen Universum auf unser Sonnensystem, von dort auf die Erde mit ihrer Biospähre, weiter auf eine spezielle Spezies und schließlich deren 2000-jährige technisch-kulturelle Binnenentwicklung. Nach zwei weiteren Drehungen landen wir in der "Singularität", jenseits derer auch diese menschliche Spezies ein "Außen" und damit nur noch Rohstoff und Verfügungsmasse für weitere "Entwicklung" wird, wie dies vorher schon die Biosphäre (als Verfügungsmasse für die technisch-kulturelle Binnenentwicklung), die kosmischen Bedingtheiten (als Verfügungsmasse für die Herausbildung einer Biosphäre) und die Entwicklungsparameter des Universums (als Verfügungsmasse für die Genese der kosmischen Bedingtheiten für Leben in unserem Sonnensystem) waren.

Gibt es Gründe (und ist eine solche Frage legitim), eine Spezies auf einem kleinen Planeten in einem kleinen Sonnensystem am Rande der Galaxis derart zum Nabel der Entwicklung der Welt zu erheben? Was ist mit alternativen "Stories" über die Entwicklungspotenziale jener Spezies mit eher "düsteren" Prognosen, die den Raubbau an den auf ihrem Planeten verfügbaren Ressourcen thematisieren und die Kurzweilschen Spekulationen als reinen Zweckoptimismus erscheinen lassen. Selbst aus der Kurzweilschen Position eines externen Beobachters verschiedener zeitlicher Entwicklungshorizonte ließe sich eine ganz andere, ebenso spekulative Geschichte über jene Entwicklungen auf einem kleinen Planeten am Rande einer von Millionen Galaxien aufschreiben.

Welche Rolle spielen also Spekulationen und Prognosen in der Wissenschaft, wie lässt sich hier eine sinnvolle Einordnung vornehmen? Wissenschaft kann nicht stehen bleiben bei einer Analyse der Welt, wenn es nicht allein darum gehen soll, die Welt zu interpretieren, sondern auch Einfluss auf die Veränderung der Welt hin zu humaneren Existenzbedingungen zu nehmen. Hierzu sind auch Spekulationen über die Auswirkungen unseres Tuns von der Wissenschaft gefordert. In der Seminardiskussion ging es weiter darum, welche Anforderungen an solche wissenschaftlichen Spekulationen über umfassende Entwicklungen der Wirklichkeit zu stellen sind, die sich nicht oder nicht sinnvoll im Kontext eines durch disziplinäre Schranken parzellierten "Systems von Expertentum" einfangen lassen.

Aus aktuellem Anlass (UN-Klimakonferenz 2015 in Paris – COP21) diskutierten wir diese Problematik am Beispiel von Spekulationen über die Klimaentwicklung auf der Erde. Diese Spekulationen, die zugleich den Kontext für die politischen Prozesse um COP21 abgeben, decken ein breites Spektrum von – allesamt besorgniserregenden – möglichen Entwicklungspfaden ab. In der Eigenrezeption der Klimaforscher handelt es sich bei diesen möglichen Entwicklungspfaden, trotz umfangreicher Simulationsrechnungen auf immer komplexeren Modellen, nicht um Prognosen, sondern um Szenarien. Den Unterschied zwischen beiden macht die Aussageform selbst aus – statt apodiktischer Prognosen bedeutet die Entwicklung von Szenarien, die Bedingtheiten der eigenen Aussagen mit zu benennen und damit die modellhafte Enge eigener Expertise in einem komplexen Zusammenhang anzuerkennen.

Erst der inter- und infradisziplinäre, Expertendomänen übergreifende Diskurs dieser Ergebnisse führt zu den Grenzen heutiger Prognosefähigkeit von Wissenschaft überhaupt. In einem solchen Diskurs sind aber alle Beteiligten Laien auf fast allen Gebieten, es sind also massive Übersetzungsleistungen erforderlich, um eine verständliche Debatte auf der Basis je einzelwissenschaftlicher Erkenntnis auf der Höhe der Zeit zu führen. Mehr kann man von wissenschaftlicher Spekulation nicht erwarten, dies aber schon. Dieses Zusammendenken der Erkenntnisse verschiedener wissenschaftlicher Spezialgebiete erfordert allerdings eine spezifische Kultur populärwissenschaftlicher Vermittlung, wie sie beispielsweise Harald Lesch mit seinen Sendungen "Leschs Kosmos" im ZDF entwickelt. Moderne Formen dieser Vermittlung nutzen moderne digitale Medien und Redaktionsprozesse wie etwa das Klimawandel-Wiki, um im engeren Kontext des Klimadiskurses zu bleiben.

Die Verbindungen zu umfassenderen Wissensvermittlungsprozessen, wie sie seit Adam Riesens "Coß" und den Enzyklopädisten des 17. Jahrhunderts auf der Agenda stehen und Grundlage für den aufgeklärten und mündigen Citoyen als "höchst politisches Wesen", als Staatsbürger in einem demokratischen Staatswesen abgeben, liegen auf der Hand. An dieser Stelle entzündete sich dann auch der Streit in einer Debatte mit Ulrich Johannes Schneider – welche eigenständige Bedeutung hat das Zusammentragen und Systematisieren, allgemeiner das Aufbereiten eigentlich bereits bekannten Wissens in unseren Wissenswelten? Welchen Stellenwert hat Wissensvermittlung und damit Lehre an einer universitas litterarum? Ist eine Enzyklopädie, ist Wikipedia ein akademisches Projekt? Ich ergänzte um die Frage: War Adam Riesens "Coß" ein akademisches Projekt?

Als weiteres Beispiel wurde auf die Begriffsformierungsprozesse für ein neues Weltbild der Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwiesen und deren enge Verflechtung mit der weiteren inhaltlichen Entwicklung der modernen Physik. Hierzu zwei Literaturangaben:

  • Albert Einstein, Leopold Infeld: Die Evolution der Physik.
  • Daniale Wuensch: Dimensionen des Universums.
Hans-Gert Gräbe, 3.1.2016


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