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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
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"2029 wird alles anders"

Termin: 17. November 2015, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-12

Thema: "2029 wird alles anders". Ray Kurzweil über technologischen Fortschritt und die Zukunft.

Vortrag und Diskussion mit Philipp Freick und Sven Hinkfoth.

Ankündigung

Ray Kurzweil stellt eine herausragende Persönlichkeit der aktuellen Zeitgeschichte dar. Von Bill Gates wird er als "the best person I know at predicting the future of artificial intelligence." gepriesen. Er hat Ehrungen von drei Präsidenten erhalten. Unter anderem von Bill Clinton die National Medal of Technology, welches die höchste Auszeichnung der Vereinigten Staaten im Technologiesektor ist. In seiner Karriere sammelte er bis dato 20 Ehrendoktortitel und schrieb 7 Bücher (wovon 5 Bestseller in den USA waren). Er ist Erfinder zahlreicher Technologien, die vom ersten CCD Flachbettscanner bis hin zur ersten print-to-speech Lesemaschine für Blinde reichen. Er ist des Weiteren Vorsitzender und Mitgründer der Singularity University und wurde von Larry Page zum Leiter der technischen Entwicklung bei Google berufen. Kurzum, er ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit.

Dabei formulierte Kurzweil zahlreiche kühne Thesen über die Zukunft. Viele seiner Vorhersagen erscheinen dabei als überaus erstaunlich, wenn nicht geradezu verrückt. Er prophezeit tief in die Gesellschaft eingreifende Veränderungen, die noch zu unser aller Lebzeiten erfolgen werden. So verspricht er nicht nur, dass Maschinen den Turing-Test im Jahr 2029 bestehen und damit beginnen werden, ihre Menschenrechte einzufordern, sondern auch, dass wir im Jahr 2045 alle technologischen Problemstellungen gelöst haben werden, um unsterblich zu sein. Diese und weitere Zukunftsprognosen Kurzweils, sowie damit einhergehende ethische und philosophische Fragen sollen Teil der Seminar-Diskussion sein. Darüber hinaus werden die Ursachen und das Wesen einer sich beschleunigenden gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet.

Philipp Freick, Sven Hinkfoth, 15.11.2015

Anmerkungen

Die Bedeutung von Storytelling für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft wurde mehrfach thematisiert. Was kann man also dem Storytelling eines sehr erfolgreichen Erfinders wie Ray Kurzweil über technische Entwicklungen einerseits und über allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen andererseits abgewinnen? Die Skepsis der Seminarteilnehmer über Aussagen aus dem zweiten Teil war größer als gegenüber Aussagen aus dem ersten Teil. Allerdings hängen beide Teile diskurstechnisch eng zusammen, denn die Suggestivkraft der Stories im zweiten Teil erwächst zu einem guten Teil aus dem Überzeugungspotenzial, das zu den Stories im ersten Teil aufgebaut wurde – ein technischer Visionär sollte auch als gesellschaftlicher Visionär durchgehen.

Dass hierbei eine spezifische Imagekonstruktion eine wichtige Rolle zu spielen scheint, legt schon der Vergleich zum Bild des "Wissenschaftlers im Elfenbeinturm" nahe, in dem sich fachliche Expertise und Skurrilität in Alltagsdingen in der öffentlichen Wahrnahme bündeln. Zwar hört man sich gern auch mal die Zukunftsvisionen eines Nobelpreisträgers an, aber es bleibt eine Stimme unter vielen. Selbst eine mit der geballten Autorität des VDW – des Vereins Deutscher Wissenschaftler – vorgetragene Argumentation wie das "Potsdamer Manifest" wird eher kontrovers aufgenommen und von der deutschsprachigen Wikipedia inzwischen komplett ignoriert.

Eine wichtige Rolle in der Imagekonstruktion "Ray Kurzweil" scheint allerdings genau die Abgrenzung von einem Wissenschaftlerimage zugunsten des Images des "erfolgreichen Erfinders" zu sein, der in der Lage ist, das Erdachte auch umzusetzen und letztlich zu versilbern, was Kurzweil in der Tat in erheblichem Umfang gelungen ist. An dieser Stelle wird ein eigentümliches Verhältnis von Technik und Wissenschaft deutlich, das nicht nur aus den Wurzeln moderner Techikwissenschaften jenseits der universitas litterarum erklärt werden kann, sondern auch den Stempel der erfolgreichen Privatisierung öffentlich produzierten Wissens durch technisch-ökonomische Verwertungsstrukturen im Kontext einer bürgerlichen Gesellschaft trägt. Ein Prozess der "Landnahme", wie ihn die Theoretiker kapitalistischer Landnahmeprozesse wie etwa (Dörre 2011) kaum thematisieren.

Bei der Bewertung der Kurzweilschen Argumentationen wäre also zunächst zu beachten, dass sie Teil eines allgemeinen Storytellings zur Legitimation bestehender und aus einer solchen Warte heraus zu wünschender zukünftiger Verhältnisse sind. Hierbei kommen Mediatisierungstechniken zum Einsatz, die schon im ersten Teil des Vortrags bei einigen die Alarmglocken klingen ließen – Aufbau des Images eines Technik-Visionärs. Mit 80% seiner Voraussagen liege er vollkommen richtig, so die Selbsteinschätzung. Zentral für eine unvoreingenommene Bewertung sollten deshalb zwei Fragen sein: (1) Welche Art von Voraussagen? und (2) Wie erfolgt deren Verifikation?

Als Problem der Antizipation technischer Entwicklungen erweist sich der Umstand, dass nur mit den Maßstäben des Heute über das Morgen nachgedacht werden kann. Differenzen zwischen Vorhersagen und tatsächlicher Entwicklung sollten also immer zu sehen sein und es spricht eher für die Anwendung von Suggestivtechniken, wenn Differenzen unsichtbar bleiben. Prognosen sollten umso genauer ausfallen, je etablierter die entsprechenden technologischen Ansätze sind. Damit steht aber sofort als weitere Frage die Bewertung der Etabliertheit technologischer Ansätze und damit einer historisch-kritischen Einordnung von Technologieentwicklungsprozessen insgesamt.

Es ist weitgehend unumstritten, dass Technologieentwicklung in Schüben vor sich geht, wobei sich Phasen breiten technologischen Wandels und Konsolidierungsphasen abwechseln. Jenseits einer solchen rein phänomenologischen Erfahrungstatsache herrscht aber wenig Einigkeit, wie diese Phänomene genauer zu beschreiben sind. Nikolai Kondratjew hat 1926 in seiner seither weit beachteten Arbeit "Die langen Wellen der Konjunktur" erstmal diese Phasenwechsel in ökonometrischen Daten aufgedeckt. Joseph Schumpeter brachte in seinen Arbeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derartige Ansätze über Begriffe wie "Innovation", "Wagniskapital" und "schöpferische Zerstörung" in direkten Zusammenhang mit einer allgemeinen Theorie kapitalistischer Entwicklung. Besonders der Ansatz "schöpferische Zerstörung" weist darauf hin, dass Technologieentwicklung phasenweise auch mit massiven Umbauprozessen bürgerlicher Institutionen einhergeht, was Ernst Bloch 1956 als "Verlust im Vorwärtsschreiten" in allgemeinerem Kontext thematisierte. Allerdings spielte dabei das Zusammendenken mit Rezeptionsprozessen auf der Seite der Technikentwicklungen nur eine marginale Rolle, so dass selbst die Periodisierung der Kondratjew-Zyklen, des heute wohl am weitesten entwickelten Ansatzes eines solchen Zusammendenkens technologischer und innerkapitalistischer Wandlungsprozesse, hoch umstritten ist, siehe etwa die Diskussionen am 15.01.2013, am 18.03.2015 oder (Gräbe 2013) bzw. (Gräbe 2015).

Geht man von der Periodisierung in (Gräbe 2013) aus, die sich neben klassischen, aus allgemeinen ökonometrischen Daten extrahierten Periodisierungen auch am Entstehen und Erstarken neuer Kapitalgruppen in technologisch neuartigen Segmenten und damit verbundenen Readjustierungen von Machtbalancen zur Sicherung angemessener Verwertungsbedingungen zwischen dieses Gruppen orientiert, so muss man im "digitalen Zeitalter" zwei Kondratjew-Zyklen unterscheiden. Der erste ist mit der Erfindung und der gesellschaftlichen Implementierung von Computertechnologien als Universalmaschinen verbunden, der zweite, gerade mit seinem "Kondratjew Winter" beginnende, mit digitalen Vernetzungstechnologien.

Unter einem solchen Blickwinkel erscheinen die Voraussagen über die Weiterentwicklung der Robotertechnik und der neuen Möglichkeiten von "Industrie 4.0" als Kern der Kurzweilschen Technologie-Voraussagen als Extrapolation der Miniaturisierungs- und Leistungstendenzen von mittlerweile etablierten Computertechnologien des letzten Kondratjewzyklus. Dies gilt auch für die Potenziale von Bio- und Nanotechnologien, deren gezielte Nutzung von Materialeigenschaften in einem nicht unerheblichen Maß auf der Beherrschung moderner Technologielevel in der Halbleiterindustrie aufsetzen, um die dafür erforderlichen Werk- und Messzeuge herzustellen. Weitgehend unklar sind dagegen aus heutiger Sicht die technologischen Potenziale und gesellschaftlichen Konsequenzen von Vernetzungsstrukturen, die sich gerade mit hoher Geschwindigkeit entwickeln und mit Google, Amazon, Facebook und Co. auch eine neue, gut kapitalisierte Gruppe von Unternehmen "erzeugt" hat, die für neue Geschäftsmodelle stehen und mit der ihnen zur Verfügung stehenden Marktmacht an einer Readjustierung von Machtbalancen arbeiten, um die eigenen Verwertungsbedingungen zu verbessern. Insbesondere aktuelle Prognosen der Potenziale von "Industrie 4.0" sind unter einem solchen Blickwinkel kritisch zu hinterfragen. Die aktiven Suchbewegungen nach einem "New Economic Thinking" zeigen, dass alte Konzepte und Erklärungsmuster weitgehend am Ende sind und auch innerkapitalistische Think Tanks sich längst auf den Weg zu neuen theoretischen Ufern begeben haben. Auch Kurzweils für 2045 terminierte "Singularität" lässt sich in einem solchen Kontext als "Denkhorizont" von Prognosen fassen, die allein computer-technologische Entwicklungen extrapolieren. Dies passt gut mit zeitlichen Prognosen für einen "Kondratjew-Herbst" zusammen, in dem nach (Gräbe 2013) eine innerkapitalistische Balance-Verschiebung hin zu Kräften zu erwarten ist, die sich im Zuge der weiteren Entwicklung von Vernetzungstechnologien umfassend kapitalisiert haben, was von auch monetären Umbewertungen von Zukunftsprognosen begleitet wird.

Werfen wir zuletzt einen Blick auf die allgemeinen Prognosen gesellschaftlicher Entwicklung von Ray Kurzweil. Wie bereits ausgeführt lebt deren Suggestivkraft zu einem guten Teil von der Autorität der Kurzweilschen technischen Prognosen. Die Aussagen sind hoch spekulativ, und so stand in der Diskussion die generelle Frage zum Verhältnis von Spekulation und Wissenschaftlichkeit. Kritische Wissenschaft – und einer solchen ist unser akademisches Seminar verpflichtet – kann sich nicht auf die reine Dekonstruktion spekulativer Gebäude beschränken, setzt aber eine solche Dekonstruktion auf dem Stand aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis voraus, um mit einer wissenschaftlichen Spekulation vorsichtig Neuland zu betreten, in der insbesondere die Annahmen expliziert werden, auf denen sich diese Spekulationen gründen. Dafür sind nach klaren Standards begründete Erwartungen angesagt. In diesem Sinne sind Kurzweils Spekulationen keine wissenschaftlichen Thesen, denn die Annahmen, auf denen sie beruhen, werden nicht expliziert.

Kurzweils Thesen fokussieren stark auf die Potenziale einer "starken KI" wie zum Beispiel der Aussage, dass Maschinen im Jahre 2029 den Turingtest bestehen werden. Ist das aber eine interessante Prognose? Welcher Intelligenzbegriff wird hier bedient? Wieso wird das vereinzelte menschliche Individuum dabei argumentativ so in den Mittelpunkt gestellt, obwohl diese Individuen nur in umfassenden sozialen Kontexten die beschriebene Handlungsmacht entwickeln können? Ist ein großer Teil unserer "menschlichen Intelligenz" nicht gerade in diesen sozialen, sozio-technischen und sozio-kulturellen Strukturen und Institutionen vergegenständlicht, dass es weitgehend egal sein kann, ob auch humanoide Roboter Teil eines solchen Strukturmixes sind?

Und ist die Welt nicht bereits voller solcher Roboter, denen allein die Menschenähnlichkeit fehlt? Aber warum menschenähnlich? Gibt es dafür funktionale Gründe? Die technische Welt ist bereits voller Industrieroboter, deren Form und Zuschnitt sich bisher am Einsatzzweck orientiert hat und nicht an der Menschenähnlichkeit. Gleichwohl setzt ein solcher "Kollege Roboter" auch heute schon Arbeitskräfte frei. Der Mensch als "Krone der Schöpfung" ist also heute nicht als Einzelindividuum, sondern nur als der "gesellschaftliche Mensch" im Globalsingular, als Menschheit zu fassen, die sich mit ihren eigenen Lebensbedingungen auseinandersetzt und auf diese gestalterischen Einfluss nimmt. Die Ursachen der Hypertrophierung des Einzelindividuums – im Seminar am Beispiel der Kurzweilschen Utopie vom "Mind Uploading" und damit einer Vision der potenziellen Unsterblichkeit von Einzelwesen diskutiert – sind also in einem speziellen Menschenbild einer konkret-historischen Gesellschaftsformation zu suchen, und wir werden da auch schnell fündig, da es sich um ein Thema handelt, das uns seit der ersten Vorlesung in der Auseinandersetzung um Begriffe wie "Privatheit" und "Ich-Kern" begleitet. "Mind-Upload" impliziert einen Ansatz der Entkontextualisierung von Persönlichkeit und ist nur in einem gesellschaftlichen Umfeld von Bedeutung, das von einem Leitbild geprägt wird, in dem hochflexible und hochverfügbare Arbeitnehmer mit ständig neuen, wechselnden und unzusammenhängenden Herausforderungen praktisch konfrontiert werden und dabei einfach "umprogrammiert" werden können. Kurz, in einer Gesellschaft, in der die "blinden Kräfte des Marktes" zur vollen neoliberalen Entfaltung gekommen sind.

Literatur:

  • Klaus Dörre (2011): Landnahme und Grenzen kapitalistischer Dynamik. Eine Ideenskizze. Berliner Debatte Initial 22, S. 56-72.
  • Hans-Peter Dürr u.a. (2005): Potsdamer Manifest.
  • Hans-Gert Gräbe (2013): Lange Wellen und globale Krise. In Sozialgeschichte online 11/2013. ( pdf)
  • Hans-Gert Gräbe (2015): Ein Kommentar zum Thema "Industrie 4.0".
Hans-Gert Gräbe, 13.12.2015. Update am 1.1.2016


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