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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
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Cyborg - der Stachanow des Computerzeitalters?

Termin: 23. Juni 2015, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-10

Thema: Cyborg - der Stachanow des Computerzeitalters?

Vortrag und Diskussion mit Franz Wendt, Alexander Graupner und Hagen Opitz.

Ankündigung

Cybernetic Organisms oder Cyborgs bezeichnen im allgemeinen Verständnis Mischwesen zwischen Mensch und Maschine. Auch wenn Körpererweiterung und Körpermodifikation durch technische Artefakte eine längere Geschichte aufweisen, fand die Rede vom Cyborg erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts Eingang in (natur-)wissenschaftliche Diskurse und die Populärkultur. Im Vortrag werden zunächst grundsätzliche Konzepte des Begriffs vorgestellt, um ihn – soweit möglich – einzugrenzen, und die Spannweite der sich aus ihm ergebenden Diskurse aufzuzeigen. Dabei werden sowohl real vorhandene als auch spekulative Beispiele aus der Science-Fiction, der Medizin, der Natur- sowie der Kulturwissenschaft einbezogen. Im zweiten Teil des Vortrags wird der Versuch unternommen, die zuvor erläuterten Cyborg-Diskurse auf die Arbeit als einen speziellen Aspekt des individuellen und gesellschaftlichen Lebens anzuwenden. Ausgehend vom Beispiel des sowjetischen Vorzeigearbeiters Stachanow soll die spekulative Vorstellung und reale Entwicklung einer “Cyborgisierung” der Menschen im Kontext von Arbeit, Optimierung und Effizienzsteigerung weiter problematisiert werden.

Franz Wendt, Alexander Graupner und Hagen Opitz, 16.06.2015

Anmerkungen

Sind Debatten über Cyborgs überhaupt noch modern? Donna Haraways "Cyborg Manifesto" (1985) lag bereits zu jener Zeit quer zu den Diskursen. 30 Jahre später sind die damals imaginierten Möglichkeiten eines "technischen Enhancements" mit Bioprothesen, Herzschrittmachern und Hörgeräten längst Teil des Alltags, womit jene damals mit Cyborgs transportierten Bilder einen guten Teil ihrer utopischen Qualität eingebüßt haben.

Die Seminardiskussionen am 14.04. und 12.05. haben gezeigt, dass Utopien eine wichtige Form der Antizipation von Zukunft sind als "Sprachformen eines bereits im Heute angelegten Potenzials des Morgen, dessen Art und Fülle der Entfaltung noch ungewiss ist". (12.05.) Diese Sprachformen sind dabei mit den heutigen Vorstellungen von Technik (andere stehen nicht zur Verfügung) aufgeladen, um morgiges gesellschaftliches Potenzial zu thematisieren.

Was aber bleibt von utopischen Bildern, wenn die imaginierte Zukunft angebrochen ist und die "Hegelsche Ironie des Schicksals", dass "die Leute, die sich rühmten, eine Revolution gemacht zu haben, noch immer am Tag darauf gesehen haben, daß sie nicht wußten, was sie taten, daß die gemachte Revolution jener, die sie machen wollten, durchaus nicht ähnlich sah" (Engels 1885), ein weiteres Mal ihre Wirkung entfaltet hat?

In der Diskussion stand im Vordergrund, dass es wohl vor allem die Frage einer engeren Symbiose von biologisch-sinnlicher Körperlichkeit und Technik sei, die Menschen stets von Neuem zu bewegen scheint und die immer wieder in zwei Richtungen gedacht wird - als der als Cyborg in eine Maschinenwelt auf Augenhöhe integrierte Mensch und die als Android in die Menschenwelt auf Augenhöhe integrierte Maschine.

Die historische Erfahrung zeigt, dass diese Symbiose (bisher) praktisch nie so eng ausgefallen ist wie in jenen Utopien ausgemalt, was auf einen systematischen Effekt hindeutet, dass die Symbiose von Mensch und Maschine nicht primär aus dieser Individualperspektive heraus zu denken ist. Gleichwohl bleibt die Individualperspektive bedeutsam, denn das Verhältnis der Menschheit zur von ihr geschaffenen Technik trägt immer das Potenzial von Kollateralschadensfähigkeit und damit Inhumanität in sich und muss sich letztlich an diesen Individualperspektiven messen lassen, zumindest wenn und solange Humanität ein zentraler Wert gesellschaftlicher Entwicklung bleibt.

Damit sind wir unvermittelt, aber nicht überraschend ein weiteres Mal bei einer unserer zentralen Fragen angekommen: Welches Menschenbild ist das Leitbild gesellschaftlicher Entwicklung, in welchen Diskursen und Dynamiken entwickelt sich dieses Bild und welche praktischen Rückkopplungen auf die institutionelle Verfasstheit unserer Gesellschaft ergeben sich?

Ein solches Bild des "neuen Menschen" in einer "neuen Welt" bewegt sich zwischen den Visionen Nietzscheanischen Übermenschen und alten "Blut-und-Boden"-Kämpfertums des Futuristischen Manifests (1909) und der starken Betonung der Rolle bürgerlicher Individualsubjekte, die sich durch privat angeeignetes gesellschaftsmächtig verfügbares Verfahrenskönnen definieren, welches möglichst eng an die eigene Körperlichkeit gebunden werden muss, um der latenten Gefahr der Enteignung zu entgehen.

Bereits 1985 verlässt Donna Haraway mit [Haraway 1985] diesen stark individualistisch aufgeladenen Diskursrahmen und zeigt auf, dass eine solche massenhaft eingenommene hochgradige ICH-Perspektive Grundlage neuer (und alter) CCC-Machttechniken (CCC = Command-Communication-Control) ist, denen ein "Cyborgmythos ... von überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen und gefährlichen Möglichkeiten, die fortschrittliche Menschen als einen Teil notwendiger politischer Arbeit erkunden sollten", entgegengestellt werden muss.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum sowjetischen Vorzeigearbeiter Alexej Stachanow und seinem ostdeutschen Pendant Adolf Hennecke, die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen ein vergleichbares Bild vermitteln sollten – die "neue Zeit" fordere einen "neuen Menschen", der um das "Gemeinwohl" besorgt planmäßig eigene Grenzen überschreitet und dabei all seine private Energie in den "Dienst der Sache" stellt, die sich in der medialen Vermittlung durch zwei Aspekte auszeichnet: ihre unausweichlich gegebene Bedingtheit sowie ihre positive emotionale Besetzung. Gegen ein solches Menschenbild rebellierte bereits Max Stirner: "Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«" [Stirner 1846].

Der Cyborgbegriff spielt als Diskursfigur in einem bürgerlichen gesellschaftlichen Kontext eine ähnlich tragende Rolle, solange es gelingt Diskurse auf Ebenen zu beschränken, in denen Haraways Ansätze nicht thematisiert werden. Diskurse um Doping, Google Glasses, NSA, Cyberphysical Systems und letztlich auch darum, ob "Menschsein an keine bestimmte Gestalt gebunden sei und daher auch unter mancherlei Gestalt stattfinden könne, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmen" [Plessner 1975] reinstrumentalisieren und readjustieren die Cyborgdebatte in diesem Sinne in der "neuen Zeit".

Literatur:

  • Donna Haraway: Cyborg Manifesto. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In: Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M. und New York 1995. S. 33-72.
  • Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin, 1975.
  • Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Leipzig, 1846.
Hans-Gert Gräbe, 03.07.2015


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