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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2015-05-12


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Entfaltete Individualität in der Gemeinschaft wird zur konkreten Utopie

Termin: 12. Mai 2015, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-10

Thema: "Entfaltete Individualität in der Gemeinschaft wird zur konkreten Utopie" (Klaus Fuchs-Kittowski).

Vortrag und Diskussion mit Julia Trabandt und Sven Kubitzky.

Ankündigung

Zu Beginn unseres Vortrages werden wir zunächst versuchen die einzelnen Begrifflichkeiten aus der These: „Entfaltete Individualität in der Gesellschaft wird zur konkreten Utopie“ zu definieren. In diesem Zusammenhang gehen wir noch kurz auf die Grundrechte ein.

Anschließend wird der Begriff der konkreten Utopie von Ernst Bloch näher erläutert. Mit dieser Vorbereitung, wird schließlich zur These von Kittowski übergegangen und die Diskussion eröffnet.

In der Diskussion sollen die Begrifflichkeiten „konkrete Utopie“ und „entfaltete Individualität“ im Vordergrund stehen. Weiterhin wollen wir ausloten, wie stark der Einfluss der digitalen Entwicklung in diesen Kontexten eingeschätzt werden kann.

Julia Trabandt und Sven Kubitzky, 4.5.2015

Anmerkungen

Zwei Begriffe prägten Vortrag und Diskussion - "Individualität" und "Utopie".

Individualität als "die Gesamtheit der Eigenheiten eines einzelnen Menschen, die die Persönlichkeit ausmachen und sie von anderen unterscheidet" wurde im Vortrag sofort historisch-konkret gefasst in der Weise, dass solche Eigenschaften nur im Kontext des Zusammenlebens in einer "bestimmten Zeit", unter "bestimmten Verhältnissen" und in einem "bestimmten Land" sinnvoll zu fassen seien.

Weiter wurde darauf verwiesen, dass bürgerliche Rechtsordnungen der Entfaltung von Individualität einen zentralen Stellenwert einräumen, so etwa die Rechtsordnung der Bundesrepublik mit dem im GG Artikel 2 (1) verankerten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dort heißt es weiter "... soweit dies nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". Der erste Teil dieser Ergänzung zielt darauf, dass das Recht auf freie Entfaltung nicht schrankenlos sein kann, da es dort mit Konfliktpotenzial aufgeladen ist, wo diese individuellen Entfaltungsprozesse zu realen Interessenkonflikten führen. Die weiteren Ergänzungen zielen darauf ab, dass die Austragung dieser Interessenkonflikte nicht zur Aushöhlung der bürgerlichen Rechtsordnung selbst führen darf, die durch "die verfassungsmäßige Ordnung" und "das Sittengesetz" in kodifizierter und nicht kodifizierter Form vorgegeben ist.

In diesem Sinne nimmt die bürgerliche Rechtsordnung die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ernster als jede vorherige Rechtsordnung, in denen freie Entfaltungsmöglichkeiten immer nur für einzelne Klassen oder Stände postuliert wurden. Über die Rechtswirklichkeit bürgerlicher Gesellschaften sagen diesen Rechtsnormative allerdings noch nichts aus. Gleichwohl sind in die "verfassungsmäßige Ordnung" eine Reihe von Garantien eingebaut wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit der Person oder auf Gleichheit vor dem Gesetz. Während das "Zusammenleben in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen" in einer globalisierten Welt eher globalen, wenn auch nicht einheitlichen Charakter hat, ist die rechtliche Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung (noch immer) nationalstaatliches Hoheitsrecht und führt zu Wettbewerb und Konkurrenz einer Vielfalt verschiedener Formen bürgerlicher Rechtsordnungen und Rechtspraxen.

Die Widersprüche all dieser Rechtsordnungen sind allerdings mit Händen zu greifen, so dass die Frage nach einer Verringerung dieser Widersprüche steht. Die im Titelzitat genannte Bewegungsform der "konkreten Utopie" versucht den Spagat zwischen einer "Idee, die so wirklichkeitsfern oder fantastisch ist, dass man sie nicht verwirklichen kann", einer "fiktiven positiven Vorstellung von einer besseren Gesellschaft" - so wurde der Utopiebegriff im Vortrag gefasst - und nicht nur "real möglichen", sondern auch praktisch sich vollziehenden Gesellschaftsveränderungen zu fassen. Der Begriff spannt damit einen Bogen auf von "Wirklichkeitsferne und Fantasterei" bis hin zu wahrnehmbarer wirklicher Veränderung und mit Blochs Ansatz der "konkret werdenden Utopie" wird der prozessuale Charakter und die konkret-historische Form solcher Veränderung betont.

Wie aber ist ein derartiger Prozess des Konkretwerdens von Utopie zu verstehen? (Wie) lässt sich eine Utopie umsetzen, verwirklichen, realisieren? Kann sich der Sinn einer solchen Utopie mit ihrer Verwirklichung ins Gegenteil verkehren? Und wäre es dann noch eine Utopie? Sind frühere Utopien heute Realität? Was haben damalige Beschreibungsformen mit heutigen Praxen zu tun? Die offensichtliche Differenz zwischen beidem legt nahe, dass Verwirklichung von Utopie nicht in demselben konkreten Sinne verstanden werden kann wie etwa die Verwirklichung des Bauplans eines Hauses. Und selbst bei der Umsetzung derartiger Pläne liegen Welten zwischen dem Bau eines Hauses und zum Beispiel des Leipziger City-Tunnels (siehe (Stahl 2014) zur Genese eines solchen heute weitgehend selbstverständlichen Konstruktionsbegriffs). Utopien können dem dauerhaft tastenden praktischen Vorwärtsschreiten hin zu den gesellschaftlichen Regeln und Institutionen einer "besseren Weltordnung" als grundlegende Bewegungsform der Entwicklung menschlicher Vergesellschaftung für eine gewisse Zeit einen mobilisierenden Rahmen und damit eine grobe Richtung geben. Sie gleichen in dieser Funktion Leuchttürmen, an denen sich Schiffe eine Zeit lang orientieren, die aber für die Orientierung bedeutungslos werden, wenn sie passiert wurden. In diesem Verständnis sind Utopien Sprachformen eines bereits im Heute angelegten Potenzials des Morgen, dessen Art und Fülle der Entfaltung noch ungewiss ist.

Als Quelle von Utopien wurden in der Diskussion vor allem im jeweiligen Heute als Unzufriedenheit wahrgenommene Widersprüche und Defizite in privaten Praxen thematisiert. Jedoch gibt es keine "privaten Utopien", denn Utopien entstehen erst als Kohärenzphänomen, in dem sich private Unzufriedenheiten zu einer gesellschaftlichen Institution verdichten.

Herr Kleemann merkte an dieser Stelle an, dass man Blochs Begriff der "konkreten Utopie" auf einem solchen Hintergrund sehen könne, aber auch die konkreten Umstände und die konkreten Debatten in Betracht ziehen müsse, in denen Bloch mit diesem Begriff operierte. Die großen Erfolge konstruktiv-ingenieurtechnischer Methoden im Zuge einer zunehmenden Industrialisierung nach 1850 gaben auch den Utopiedebatten der folgenden 100 Jahre eine sehr spezifische positivistische Prägung bis hin zur Frage, ob nicht auch die vagen bildlichen Formen früherer Utopien durch "rationalere" Beschreibungsformen abzulösen seien und man sich sogar ein "Bilderverbot" auferlegen müsse (siehe hierzu die Texte von Roger Behrens und Uli Weiß sowie die Kommentare dazu). Diese Debatte um die Bedeutung bildhaften Denken, mit dem die engen Grenzen der rationalen Wissenschaftssprache von "Science" überschritten werden, dauert bis heute an und nimmt auf dem Hintergrund der wachsenden Komplexität technisch genutzter Wirkzusammenhänge eher wieder zu.

Mit dieser allgemeinen Annäherung an den Begriff der "konkreten Utopie" ist allerdings noch nichts über die These

Entfaltete Individualität in der Gemeinschaft wird zur konkreten Utopie

von Klaus Fuchs-Kittowski gesagt, die konkrete Prozesse der "Entfaltung von Individualität in der Gemeinschaft" in den Kontext dieses Begriffs stellt. Dieser Themenkreis wurde in der Diskussion aus Zeitgründen nur kurz berührt und dort vor allem der Aspekt einer "Entfalteten Individualität" im Kontext von Bildung und Wissen thematisiert. In den Vortragsfolien wurden dazu eine Reihe von Fragen aufgeworfen:
  • Wie wird der Utopiebegriff durch den digitalen Wandel beeinflusst?
  • Entfaltete Individualität als Ziel wahrhafter Bildung?
  • „Sich in dem Selbst zu dem ausprägen, was die Individualität der Möglichkeit nach ist, bedeutet ihre Steigerung zur idealischen Individualität, zur Repräsentanz jener Idee, die potentiell der Individualität immer schon, also von Natur aus zukommt.“ (Menze 1972)
  • Erfüllt Bildung momentan diesen Anspruch?
  • Begünstigt digitale Entwicklung einen Verwirklichungsprozess hin zu jenem "natürlichen" Anspruch von Individualität?
In einem so verstandenen Sinn von Bildung als gesellschaftlich garantiertem Prozess individueller Entfaltung wird gemeinschaftliche Verfügungsgewalt über Verfahrenswissen zur Voraussetzung für die Entfaltung von Individualität
  • „Es zeigt sich, dass der Einzelne nicht notwendig in selbstbezogener Subjektivität verharren muss, sondern dass gerade die entfaltete Individualität die Gemeinschaftsbildung ermöglicht.“ (Dietz/Kracht 2011)
  • „Entfaltete Individualität beruht auf einem hochdifferenzierten sozialen Netzwerk und kann nicht ohne soziale Verankerung gedacht werden, d.h. sie ist durch die soziale Gemeinschaft determiniert.“ (Dollinger 2006)
und ist umgekehrt die Nutzung erweiterter individueller Entfaltungsmöglichkeiten das Agens für eine weitere Entfaltung von "sozialer Gemeinschaft" als Gesellschaft und in Gesellschaft.
  • Die Softwareentwicklung beschleunigt die Vergegenständlichung des Geistigen.
  • „Die Vergegenständlichung des Geistigen auf maschinell verarbeitbaren syntaktischen Strukturen führt zur Vergesellschaftung des Wissens. Dies ist Grundlage der Entfaltung von Individualität. [...]“ (Klaus Fuchs-Kittowski 2007)
  • „Jedes Individuum, solange es als Mensch am Leben ist, hat [...] angesichts jeder aktuellen Einschränkung [...] immer in irgendeinem Grad die Freiheit seine Bedingungsverfügung zu erweitern oder darauf zu verzichten.“ (Holzkamp 1983)
Literatur zum Vortrag:
  • Heinz Abels (2010): Erste Definitionen von Individualität und Individualisierung. In Identität, 43–46. VS Verlag für Sozialwissenschaften. doi://10.1007/978-3-531-92007-8_4
  • Dietz, Kracht (2011) – Dialogische Führung: Grundlagen.
  • Dollinger (2006) – Individualität als Risiko?
  • Klaus Fuchs-Kittowski (2007): Widerspruch, Wissen, Entwicklung – Zur Ambivalenz der Wirkungen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien auf Individuum, Gesellschaft und Natur. Berlin.
  • C. Menze: Grundzüge der Bildungsphilosophie Wilhelm von Humbolds. In: H. Steffen: Bildung und Gesellschaft. Zum Bildungsbegriff von Humbold bis zur Gegenwart, 1972.
  • Klaus Holzkamp (1983): Der Mensch als Subjekt wissenschaftlicher Methodik. ( pdf)
  • Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
  • http://definition-online.de/utopie/
  • Annette Schlemm (2005): Individuelle Selbstentfaltungsbedürfnisse als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung.
  • http://de.wikipedia.org/wiki/Konkrete_Utopie
Weitere Literatur:
  • Roger Behrens (2009): Kommunismus. Dreißig Thesen. In: phase 2, Nummer 31.
    • Anmerkungen von Uli Weiß dazu und weitere Kommentare, insbesondere zum Thema "Bilderverbot".
  • Wolfgang Krohn (2006): Wissen ist Macht. Francis Bacon, Baron von Verulam. In: der blaue reiter, Journal für Philosophie 21, 98-103. pdf
  • Thomas Nagel (2013): Geist und Kosmos - Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp.
  • Kristóf Nyíri (2010): Image and Metaphor in the Philosophy of Wittgenstein. ( pdf)
  • Richard David Precht diskutiert mit Sarah Wagenknecht: Wann kommt der Kommunismus? Über linke Utopien ( ZDF, 26.04.2015)
  • Annette Schlemm (2005): Historische Möglichkeiten - Konkretisierung der Utopie. ( Text)
  • Jürgen Stahl (2014): Konstruktion - Antizipation und gestaltende Fähigkeit des Subjekts. ( pdf)
  • Joseph Weizenbaum (1977): Macht der Computer und Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp.
Hans-Gert Gräbe, 24.05.2015

Zwei Nachsätze

Utopie, das Zauberwort linker Erlösungshoffnung, ist für Müller eine Unglücksmetapher gewesen, die Aufklärung ein Anmaßungsprogramm, die Gerechtigkeit eine Antriebsvokabel für Kreuzzüge und die Liebe ein Feigenblatt für nackten Verrat.

  • Hans-Dieter Schütt: Dieses Elend, etwas verstehen zu wollen. Rezension eines Readers über Heiner Müller. Neues Deutschland, 22.05.2015, S. 13
Der Theologe Eugen Drewermann erklärte im ND-Interview, das Problem der Religion sei, dass diese "identifiziert wird mit einer bestimmten organisierten Traditionsform, oder dass man den Glauben an Gott rein kausal begründet. Aber: Die Tatsache der Welt erfordert keinen Gott. Weder als Schöpfer noch als Beweger." Religion solle vielmehr "Vertrauen begründen in den Hintergrund der Welt. Es geht um die Vorstellung von einer Güte, die unabhängig von uns vorgegeben ist, jenseits der Gesellschaft." Diese Darstellung könnte eine Erklärung sein, warum die Religiosität auch im 21. Jahrhundert in immer neuen Formen und Farben existiert - auch wenn die Kirchen leerer werden und viele Menschen nicht mehr wissen, was zu Pfingsten eigentlich gefeiert wird.
  • Ingolf Bossenz: Der letzte Mensch und seine Lüstchen. Neues Deutschland, 23./24.05.2015, S. 9
Hans-Gert Gräbe, 24.05.2015


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