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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
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Digitaler Wandel in Estland

Termin: 20. Januar 2015, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-12

Thema: Digitaler Wandel in Estland. Vortrag und Diskussion mit Robert Terbach.

Ankündigung

Trotz nur knapp über 1,3 Millionen Einwohnern ist es Estland gelungen, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Mit seiner stark auf Digitalisierung ausgelegten Strategie konnte Estland einen effizienten Staatsapparat aufbauen, seine Bürger auf dem Weg aus sowjetischer Unterdrückung in die Demokratie mitnehmen und fruchtbaren Boden für Technologiefirmen anlegen. Konsequente Infrastruktur- und Bildungsinvestitionen haben staatliche sowie medizinische Dienste, Banken und die Bildung online zugänglich gemacht. In einigen Schulen wird Programmieren ab der 7. Klasse gelehrt, ein Drittel der Wähler geben ihre Stimme elektronisch ab.

Dem gegenüber stehen große Diskussionen über Privatspähre und Freiheit sowie der Hackerangriff auf die Estnische Regierung 2007. Das Referat will einen Überblick über den digitalen Raum Estland geben, Hintergründe und Folgen der Digitalisierung erläutern und die Frage stellen, ob E-Stonia mit staatlichen digitalen Identitäten und großen Datenbanken einen Großen Bruder erschafft oder Instrumente demokratischer Freiheit verfügbar macht.

Robert Terbach, 13.1.2015

Aus dem Vortrag

Tiigrihüpe & Tiger Leap Foundation

  • 1996 von Toomas Hendrik Ilves vorgeschlagen (damals Botschafter in USA)
  • Große Investments in Netzinfrastruktur insbesondere Schulen sollten Internetzugang und Computer bekommen
  • Programmieren in der weiterführenden Schule, teilweise integriert in andere Fächer
  • Mit Progetiiger befindet sich gerade ein weiteres Programm im Aufbau, das bisher an über 20 Schulen schon ab der ersten Klasse Programmieren lehrt.
Dieses Projekt zeigte schnell Wirkung, heute sieht es quasi überall so aus:

Vernetzung

  • 80% Breitbandausbau
  • Öffentliches WLAN an über 2500 AccessPoints ~100% Abdeckung in Tallinn
  • 4G-Netze decken 95% der Landesfläche ab
  • Preislich mit Festnetz konkurrenzfähig, viele haben keinen Festnetzanschluss mehr
  • 90% der Bevölkerung sind Internetznutzer
Auch wirtschaftlich zeigte sich Wirkung, junge talentierte Leute gründen Techfirmen: Skype kommt aus Estland, Kazaa, viele weitere Startups

Dienste

  • eID
    • eingeführt im Januar 2002
    • enthält ausschließlich 2 Zertifikate, keine Daten
    • Public-Key Infrastruktur, ermöglicht Authentifizierung und Signierung
    • Rechtlich mit Unterschrift gleichgestellt
    • Daten auf den Servern sind 2048 bit verschlüsselt
    • Die Karte ist nicht nur Ausweis, sondern auch Nachweis der Krankenversicherung, Führerschein, ÖPNV-Ticket und Geldkarte
  • Medizinsektor
    • Rezepte digital, können per Internet verschrieben werden, gerade für ältere, chronisch Kranke sehr nützlich!
    • Patientenakte digital & zentral
  • Steuern, Schule, Hochschulbewerbung
    • Steuererklärung - 95% machen das Online
    • Schulnoten & Material (Hausaufgaben, Informationn, Fehlstunden, Beurteilungen) online einsehbar, Kommunikation
    • Schulabschlussnoten werden u.a. per SMS versendet, Bewerbungen an Universitäten können dann direkt einfach geschickt werden
  • Wahlen: Neben dem klassischen 'auf Papier wählen' kann man in Estland noch mit seiner eID über das Internet wählen oder per SMS
    • SMS über spezielle SIM-Karten
    • Anonymität gewahrt, Authentifizierung unabhängig von der Stimme (2 PINs)
    • 2005 war die Erste e-Wahl möglich
    • 2013 waren über 30% der Stimmen bei der EU-Wahl digital, 10% der Wähler würden klassisch nicht wählen gehen
  • Digitale Staatsbürgerschaft
    • Für jeden auf der Welt zu erwerben (50€ Bearbeitungsgebühr)
    • Man erhält eine eID und Zugriff auf fast alle Online-Dienste
    • Die Ziele sind durchaus ambitioniert, es sollen in den nächsten 10 Jahren 10 Millionen 'digitale Esten' enstehen
    • Klar im Vordergrund steht hier der Versuch wirtschaftlich international konkurrenzfähiger zu werden. Man will Firmengründungen erreichen, die in Estland Steuern zahlen.
Datenschutz
  • Persönliche Informationen die als vertraulich angesehen werden: politische Meinungen, Glaube, Herkunft, sexuelle Orientierung, Angaben über die gesundheitliche Verfassung oder Vorstrafen dürfen nicht ohne die Einwilligung des Bürgers verarbeitet werden.
  • Es muss einen Beauftragten in jeder Firma geben, der für die Vertraulichkeit dieser Daten sorgt
  • Dieser Verantwortliche muss angemeldet sein beim Data Protection Inspectorate.
  • Jeder Zugriff auf Personenbezogene Daten wird protokolliert und den Betroffenen mitgeteilt
  • Data Protection Inspectorate
  • Die Hauptaufgabe des DPI ist der Schutz der Individuen vor den staatlichen Autoritäten, also Ämtern zu schützen, ebenso wie auch der bereits angedeutete Schutz vor Firmen.
Mittlerweile erfordert jedoch, mit steigender Tendenz, der Schutz des Individuums vor anderen Einzelpersonen immer mehr Aufmerksamkeit. Immer mehr persönliche Daten landen im Netz (Social Media, Dronen, Recognition Software)

Zusammenfassung:

  • Dank Tiigrihype bekomen praktisch alle Bürger früh Kompetenzen für Computer vermittelt
  • Verwaltungsdienste sind schlank und für Bürger leicht benutzbar
  • eID ermöglicht viele praktische Services
  • Die Demokratie wird immer stärker, Verbindung zur Regierung relativ direkt
  • Und die Wirtschaft ist international konkurrenzfähig
Zensur
  • Es gibt Internetzensur, die über 1000 Internetseiten blockiert. Es geht darum illegales Online-Glücksspiel zu verhindern; Die Liste ist transparent einzusehen. Ziel ist hier die Besteuerung.
  • Keine weitere Zensur - Estland ist auf Platz 1 der Internetfreiheit (Freedom House)
Angreifbarkeit: 2007 hat die Regierung Estlands ein russisches Denkmal und Kriegsgräber verlegt. Es kam zu größeren Protesten der russischen Minderheit. Mutmaßlich infolgedessen wurde Estland digital angegriffen; es wurden mit Botnetzen DDOS Angriffe auf Regierungsseiten gefahren. Ebenso wurden Parteiseiten und Nachrichten angegriffen. Es hat sich Jahre später jemand dazu bekannt, aber es ist nicht abschließend geklärt, wer alles beteiligt war.

Probleme:

  • Wahlsicherheit - Der CCC hat ja in der Vergangenheit mehrfach gezeigt, dass digitale Wahlen angreifbar sind;
    • Versuche, die Estnischen Wahlen anzugreifen wurden bisher nicht bekannt
    • Es gibt keine Testläufe, man will nicht in den Prozess eingreifen, es ist aber unbekannt
    • Keine Aussagen über Sicherheit des Verfahrens (siehe aber The Guardian, 13.05.2014)
  • Sehr viele sensible Daten sind zentral gespeichert und für Regierung und andere, zum Beispiel Krankenkassen, einsehbar
    • Bewegungen wie Quantified Self liefern noch viel mehr Daten
    • Risiko für kranke Menschen, kann Sozialstaat in Frage stellen!
    • Kritische Berichterstattung kann auch verhindert werden durch den Logging-Mechanismus beim Datenzugriff
  • Die Verschlüsselungsinfrastruktur wird vom Staat gestellt
    • Andere (Cameron, UK) fordern gerade Verschlüsselungen, die vom Staat gebrochen werden können.
  • Zensurinfrastruktur ist bereits geschaffen. Missbrauch nur eine Frage der Zeit?
    • Möglichkeiten eines Orwellschen "1984"
Estland als Beispiel und Ideengeber für X-Road Europe.
  • The X-Road EU environment has been specifically developed for EU countries from the X-Road core technology that has been in use in Estonia since 2002.
  • Veröffentlichung von Regierungsdaten ist in anderen europäischen Ländern noch nicht so weit fortgeschritten
  • Open Data ist zwar ein Ziel, aber bisher ist die Richtung relativ einseitig
Anmerkungen

Die Huffington Post vom 24.03.2014 benennt acht Gründe, weshalb Estland als Vorreiter des digitalen Wandels gilt.

1. Personalausweis und Unterschrift sind überflüssig

Bürger weisen ihre Identität mit einer persönlichen ID-Nummer nach. Die Nummer ist auf einer ID-Karte abgespeichert - oder auf der Sim-Karte im Mobiltelefon. Die Bürger können sich damit zum Beispiel bei Behörden, bei der Bank, beim Schließen von Verträgen und beim Arzt ausweisen. Seit das Digitale-Signaturen-Gesetz erlassen wurde, zählt die ID genauso viel wie die Unterschrift auf Papier.

2. Kostenloses WLAN ist selbstverständlich. Überall.

In Estland ist an fast allen Orten kostenloses WLAN verfügbar. So stellen etwa Geschäfte und öffentliche Einrichtungen ihr WLAN frei zur Verfügung, da sie für das Zahlen mit EC-Karte sowieso eine Internet-Verbindung brauchen und die ungenutzte Bandbreite den Kunden zur Verfügung stellen.

3. Die Esten bezahlen mit Online-Währung auf der Geldkarte im Mobiltelefon.

4. Die Krankenakte ist digital und für den Patienten jederzeit einsehbar.

In Estland ist der Patient Herr über seine eigenen Informationen. Arztbesuche, Medikamente und Untersuchungsergebnisse werden in der digitalen Patientenakte gespeichert. Ärzte und Kliniken überall im Land können sofort alle wichtigen Informationen einsehen - aber nur, wenn sie die Erlaubnis des Patienten haben.

5. Eltern wissen alles über die Schulleistungen ihrer Kinder.

Schüler können schlechte Noten nicht mehr verheimlichen. Noten, Fehlstunden, Hausaufgaben und Lehrpläne werden auf einer zentralen Plattform gespeichert.

6. Die Steuererklärung macht sich von selbst.

Die Daten werden vom Finanzamt automatisch bei Arbeitgebern, Banken und andere Organisationen abgerufen. Am Ende prüfen die Bürger die Informationen und schicken das Formular ab. Zwei Tage später haben sie die Rückzahlungen auf ihrem Konto.

7. Transparenz ist mehr als nur ein Wort

Skeptiker mögen einwenden, dass die Bürger zu viele Daten preisgeben. Tatsächlich scheinen die Esten dadurch aber mehr Kontrolle über ihre Informationen zu haben. Sie können in einem Protokoll einsehen, wer ihre Daten wann abgerufen hat. Wenn es dafür keinen triftigen Grund gibt, können sie klagen.

8. Innovationen haben es leicht

In dem kleinen Land entstehen gemessen an der Einwohnerzahl mehr Startups als irgendwo sonst in Europa. Deshalb wird Estland international schon als das "nächste Silicon Valley" gehandelt. Estnische Bürger können Firmen online gründen - im E-Business-Register. Das dauert nur 18 Minuten. Besuche beim Notar oder bei Behörden sind nicht nötig.


Estland hat nach der Loslösung von der Sowjetunion 1987 große Anstrengungen in Richtung des Ausbaus einer landesweiten sozio-technischen Infrastruktur unternommen, die modernste digitale Kommunikationskonzepte umsetzt. Fragen nach möglichen negativen Konsequenzen des Einsatzes solcher Technik wurden zu Gunsten pragmatischer Ansätze hintangestellt, mit dem Personal Data Protection Act und dem Data Protection Inspectorate wurden auch rechtliche Regelungen und staatliche Institutionen geschaffen, mit denen in einer so (daten)-offenen Welt auch über Missbrauch von Daten verhandelt werden kann. Mit dem Ansatz, zunächst sozio-technische Lösungen zu installieren und auf der Basis praktischer Erfahrungen mit deren Einsatz technische und rechtliche Adjustierungen vorzunehmen, geht Estland einen sehr eigenen Weg in die digitale Zukunft. Die Ergebnisse dieses Wegs sind genauer zu studieren, um Optionen den eigenen Weg des digitalen Wandels besser zu verstehen.

Eines der Hauptziele der estnischen Politik ist es, mit derartigen Bedingungen Estland zu einem High-Tech-Land zu entwickeln, in dem wichtige digitale Technologien entwickelt werden. Dazu wurde eine virtuelle Staatsbürgerschaft eingeführt. "Die sogenannte E-Residency erlaubt es Menschen mit oder ohne existierende Verbindung zu Estland, das breite Spektrum an E-Government-Dienstleistungen und Onlineservices in Anspruch zu nehmen, für welches das Land mittlerweile internationale Bekanntheit genießt. Von einer herkömmlichen Staatsbürgerschaft unterscheidet sich die virtuelle Variante primär durch das Fehlen eines Wahlrechts, einer physischen Aufenthaltsgenehmigung sowie einer Berechtigung zur Ausstellung eines estnischen Reisepasses". ( Quelle)

Estland als großer High-Tech-Staatskonzern? Ein Beispiel mehr, welche Optionen der digitale Wandel innerhalb einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eröffnet.

Hans-Gert Gräbe, 28.01.2015


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