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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2014-05-06


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Die vernetzte Bibliothek

Termin: 6. Mai 2014 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-10

Thema: Die vernetzte Bibliothek. Texte und Medien im digitalen Zeitalter

Mit einem Einstiegsbeitrag von Matthias Geßner und Lisa Freisewinkel

Ankündigung

Der Aufbruch ins Internetzeitalter beinhaltet zwei Teilaspekte, die wiederum miteinander verknüpft sind – die Weiterentwicklung der Formen des sogenannten „Kulturellen Gedächtnisses“, sowie die Werkzeuge und Systeme zur Speicherung von Wissen, sog. „Aufschreibesysteme“, welche wiederum wesentlich der Erfassung des ersteren dienen.

So soll einerseits die „Evolution“ von Aufschreibesystemen und die neuen Qualitäten durch digitale Techniken beschrieben werden und andererseits Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses am Beispiel der Europeana als Projekt einer Europäischen Universalbibliothek und Trägerin dieses Gedächtnisses.

Besondere Qualitäten der digitalen Entwicklung sind dabei die Konvergenz von Medien, die Erweiterung von Aufschreibesystemen durch Vernetzung, die Fähigkeit zur Transparentmachung von Intertextualität und zur Realisierung von Hypertextualität – alles Begriffe, die insbesondere im Zusammenhang mit der Digitalisierung an Bedeutung gewinnen. Daraufhin soll ein in die Zukunft gerichteter Perspektivwechsel erfolgen – der nach den Konsequenzen der Veränderung von Aufschreibesystemen und kulturellem Gedächtnis durch Digitalisierung fragt und folgende Diskurse aufwerfen könnte:

  • Ist das Internet das Ende der (einzelnen) Medien?
  • Ist das Internet (oder kann es werden) eine utopische Bibliothek von Alexandria oder eine dystopische Bibliothek von Babel?
  • Ist das Internet „unendlich“ oder in sich geschlossen und in steigendem Maße selbstreferenziell? Ist in diesem Rahmen Kreativität möglich?
Matthias Geßner, Lisa Freisewinkel, 30.4.2014

Anmerkungen

Gegenstand von Vortrag und Diskussion waren Formen der "Speicherung" und damit Weitergabe menschlichen Wissens, welche die "flüchtigen" oralen Formen des Weitergebens transzendieren. Auf diesem Gebiet ist zweifellos eine der einschneidendsten Veränderungen zu beobachten, welche das "digitale Zeitalter" mit sich bringt - die Digitalisierung der "Wissensschätze der Menschheit". Dieser Problemkreis kam wenigstens am Rande, mit einigen Anmerkungen zum europäischen Beitrag an diesem globalen Projekt - der Europeana - vor, die große Bedeutung und auch die Widersprüchlichkeit dieser Entwicklungen zwischen öffentlich finanzierten Beiträgen der Bibliotheken und privatwirtschaftlich finanzierten Projekten wie Google Books wurde nicht thematisiert.

Während bei der Europeana wie auch bei Google Books das Ergebnis des Sammel- und Digitalisierungsprozesses im Vordergrund steht mit einer so hohen Vielfalt von (potenziellen) Nutzungsmöglichkeiten, dass sich diese auch gebündelt nicht fokussieren lassen, also dieses Digitalisieren nicht als zweckgerichtetes Handeln (über das Digitalisieren als Selbstzweck hinaus) begriffen werden kann, sondern nur als Teil der Weiterentwicklung des kulturellen Erbes, sah dies für die Seminarteilnehmer bzgl. der Wikipedia deutlich anders aus. Hier liegt der Zweck bzw. Nutzen klar auf der Hand - einfacherer Zugang zu enzyklopädischem Wissen, mit dem die Anwesenden vor allem als Nutzerinnen (Parallelen zu den beiden Möglichkeiten, auf Technik zu schauen, sind nicht zufällig) eigene Erfahrung gesammelt haben.

Zwar wurde in der Diskussion auch über soziale Prozesse des Erstellens von Wikipedia-Texten gesprochen, aber nur aus der Perspektive der "Wikipedisten", also des auf eigene ideologische Muster heruntergebrochenen Hören-Sagens über derartige Erfahrungen, womit man sich eher an der Oberfläche bewegte. Die Frage der Bedeutung des Postulats eines neutralen Standpunkts (NPOV) für die Grundkonstruktion der Wikipedia und die Grenzen einer solchen "Objektivität" wurden 2010 auf einer spannenden Konferenz in Leipzig zwischen "Wikipedianern" und "Wikipedisten" sehr detailliert und kontrovers diskutiert.

Die Diskussion im Seminar konzentrierte sich eher auf die Frage, wie weit man Informationen aus Wikipedia-Artikeln in eigene Arbeiten aufnehmen dürfe. Trotz differenzierter Argumente war der Zugang weitgehend unisono einer aus Sicht akademischer Arbeit, aus einem Blickwinkel also, den die klassischen enzyklopädischen Projekte seit dem 17. Jahrhundert transzendieren mit der Suche nach Formen, in denen das "Wissen der Menschheit" auch einem breiteren nicht-akademischen "Bildungsbürgertum" und darüber hinaus zugänglich gemacht werden kann. Dieser akademische (oder pseudo-akademische?) Horizont wurde selbst an den Stellen nicht gesprengt, wo mit Begriffen wie "Primärquellen", "Quellenkritik", "Sekundärquellen", "Lehrbücher" eine hohe Variationsbreite von Formen der Wissenstradierung auch im akademischen Betrieb selbst präsent ist.

Das Beispiel Wikipedia ist dennoch interessant, denn hier lässt sich an den verschiedenen Dimensionen des Wandels, 1) den neuen sozialen Formen des Erstellens dieser Enzyklopädie, 2) der Hyperlink-Technologie und 3) der einfachen digitalen Zugänglichkeit, die Frage diskutieren, ob wirklich eine neue Qualität enzyklopädischen Wissens vorliegt. Für wenigstens die letzten beiden, eher technischen Aspekte lässt sich das sicher verneinen, denn auch die anderen, stärker kommerziellen enzyklopädischen Projekte wie die Encyclopedia Britannica oder die Brockhaus-Enzyklopädie haben sich - wenigstens eine gewisse Zeit - in eine solche technische Richtung weiterentwickelt. Und mit Blick auf die Projekte MicroSoft Encarta sowie Erik Weissteins Math World und Science World ist zu sehen, dass auch neue enzyklopädische Projekte einen festen Platz im Topos der Wissensvermittlung erlangen können, wenn sie in den richtigen kulturellen Kontext gestellt werden und unter den neuen Bedingungen angemessene Geschäftsmodelle entwickeln. Die sich wandelnde Bedeutung von "Autoren und Wissenswelten" diskutierten wir im Januar 2012 mit dem Direktor der Leipziger UB, Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, einem ausgewiesenen Kenner der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts.

Ich komme damit auf einen letzten und im Vortrag sehr dominanten Aspekt zu sprechen, der unter dem Terminus der Aufschreibesysteme entwickelt wurde und in den Formen einer "Bibliothek von Alexandria" oder einer "Bibliothek von Babel" die Frage thematisiert, ob eine Externalisierung ("Aufschreibung") des gesamten Wissens der Menschheit in einem sinnvollen Verständnis überhaupt möglich ist - also jenseits des Infinite-Monkey-Theorems der auf Schreibmaschinen klimpernden Affen, die zufällig irgendwann den ganzen Shakespeare heruntergeklimpert haben, ohne dies auch nur bemerken zu können. Beide Bibliotheken sind mythischer Natur, auch wenn es einige Anzeichen gibt, dass die Alexandrinische wirklich existiert haben mag (aber kaum in der Form des ins Heute überkommenen Mythos). Beide haben mythischerweise Wissen in einer nicht ins Heute überlieferten "perfekten" Wissensordnung systematisiert. Dieses "Wissen über die perfekte Ordnung" ist leider verloren gegangen, im Mythos der Alexandrinischen Bibliothek (wie auch in der Bibliothek in Ecos Roman "Name der Rose") durch ein wüstes Feuer, wo nicht klar ist, ob es die "Barbaren" selbst gelegt haben oder die Weisen, um die Wissenssystematik dem Zugriff der Barbaren zu entziehen. Für die "Bibliothek von Babel" ist Quelle und Träger einer "perfekten Wissensordnung" mit Konnotationen zum Turmbau zu Babel noch deutlicher, die Ursache unserer heutigen "Verwirrtheit" in (1. Mose, 11) klar ausgemacht.

Herr Geßner betonte mehrfach, dass er dies in Form einer Frage formuliere und niemanden zu Antworten dränge. Aber oft ist es bereits die Frage selbst, die auf Abwege führt und sich die Antwortalternativen bei genauerem Hinsehen als Scheinalternativen entpuppen. Deshalb ist es oft spannender, die richtigen Frage zu stellen als die richtigen Antworten zu finden. Stellen wir also die Frage, was ein Begriff "Aufschreibesystem" zu leisten vermag, der in seiner Interpretation sofort auf bereits Aufgeschriebenes, in welcher der Formen - Buchwelt des 18./19. Jahrhunderts, mediale Welt des 20. Jahrhunderts oder multimediale Welt des 21. Jahrhunderts - auch immer, verengt wird, also die Aspekte des Kreierens und Rezipierens (von mir mit dem Begriff "lebendiges Wissen" ins Spiel gebracht) weitgehend ausklammert.

Aber ging es wenigstens um ein "System des Aufgeschriebenen", also etwas Inhaltliches wie Wissensordnungen, ein nicht nur von Helmut Spinner oder Jürgen Mittelstraß (letzterer problematisiert gerade auch deren Dimension der Ökonomisierung) facettenreich untersuchtes Thema?

Die Zuspitzung auf die Alternative "Babel oder Alexandria" reduziert eine solche "Systemfrage" auf die Formfrage des Aufgeschriebenen selbst, ob der Sinn im Text steckt, also selbst mit externalisierbar ist, oder sich erst im Kontakt mit der Rezipientin und deren Erfahrungshorizont ("totes Wissen wird wieder lebendig") entfaltet. Hierzu ein weiteres Zitat von Kristóf Nyíri, dem ungarischen "Philosophen des Mobilfunkzeitalters", der den diesbezüglichen Stand der (modernen) Philosophie nach Wittgenstein wie folgt zusammenfasst:

As he <Wittgenstein> puts it in a well-known passage of the Philosophical Investigations: "If language is to be a means of communication there must be agreement not only in definitions but also (queer as this may sound) in judgments. This seems to abolish logic, but does not do so. ... human beings ... agree in the language they use. That is not agreement in opinions but in forms of life." It is interesting to note that Heidegger, along with Wittgenstein the other great twentieth-century philosopher of post-literacy, had quite similar views, even if expressed in a rather different terminology. "We do not merely speak the language", he wrote, "we speak by way of it. ... We hear language speaking. ... language speaks." Both for Wittgenstein and Heidegger, speaking, and thus thinking, is first, foremost, and to the end, a collective achievement. The primary agent of thinking is the community of speakers; the rules of traditional logic are a makeshift substitute in the mind of the solitary thinker for the absent voices of interlocutors. In the age of post-literacy linear logic is, once more, supplanted by the logic of conversation. As McLuhan's theory of the mediated mind foresaw: "In the electric age ... our central nervous system is technologically extended to involve us in the whole of mankind ... the creative process of knowing will be collectively ... extended to the whole of human society". (aus Kristóf Nyíri: The networked Mind)

Hans-Gert Gräbe, 08.05.2014


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