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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2014-01-14


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Natürliche und artifizielle Strukturen

Termin: 14. Januar 2014, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-10

Die moderne Welt ist das Produkt des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes. Ihre artifiziellen Strukturen nehmen zu, ihre natürlichen Strukturen nehmen ab.

Vortrag und Diskussion mit Melanie Mendikowski und Boie Thomson

Ankündigung

Der Mensch als homo faber, der sich seine eigene Welt schafft, eine Welt der Technik und der Wissenschaft. Gerade im Zeitalter der medialen Revolution, getrieben vor allem durch die Entwicklung des Internets, wird immer mehr die Frage aufgeworfen, wie weit sich der Mensch selbst schon aus dieser Welt entfremdet hat.

Jürgen Mittelstraß thematisiert dies in seiner Rede „Zur Zukunft des Internets“. Zwar spricht er von Glanz und Elend dieser Entwicklung, überwiegend steht er der Thematik ähnlich Weizenbaum jedoch kritisch gegenüber. Besonders kritisch erwähnt er sogenannte „Posthumanisten“ in ihren Visionen einer überlegenen nicht-menschlichen Spezies, welche das Mängelwesen Mensch ablösen werde.

Da die Entfremdung des Menschen von natürlichen Zuständen und dem Verständnis der von ihm verwendeten Werkzeuge schon zu Genüge in vorigen Vorträgen diskutiert wurde, werden wir hierauf nur kurz eingehen. Wir werden uns bei unserem Vortrag also mehr auf die Auseinandersetzung Mittelstraß' mit dem posthumanistischen Gedankengut konzentrieren.

Läuft die mediale Revolution darauf hinaus, den Menschen durch einen technischen Übermenschen zu ersetzen? Dies bleibt zu diskutieren.

Boie Thomson, 8.1.2014

Anmerkungen

Im letzten Seminar des Semesters (der potenziell Vortragende zum allerletzten hatte sich schon vor einiger Zeit in Luft aufgelöst) ging es noch einmal um einen speziellen Aspekt der Thesen von Mittelstraß mit ihren Reizworten "moderne Welt", "artifiziell" und "natürlich".

Eine entsprechende Begriffsarbeit stand am Beginn der Ausführungen, wobei sich hier schon die Schwierigkeiten mit dem gesamten Plot der Mittelstraßschen Argumentationsfigur andeuteten, etwa wenn der Begriff "natürlich" als "nicht künstlich vom Menschen nachgebildet" gefasst wird; eine sicher von Mittelstraß beabsichtigte Wirkung, auch wenn es der große Philosoph so nicht formulieren würde. In diesem Sinne allerdings "nehmen die natürlichen Strukturen" seit vielen tausenden von Jahren ab, seit der Mensch als gestaltendes Wesen, als homo faber, aktiv ist.

Die "moderne Welt als Produkt des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes" ist dabei nur ein weitere Windung auf einem Weg, dessen Bedingtheiten genauer zu analysieren wären. Fragen wie

  • "in welchem Umfang macht sich der Mensch abhängig von den von ihm geschaffenen Instrumenten" vs. "welche neuen Möglichkeiten eröffnen dem Menschen diese neu von ihm geschaffenen Instrumente",
  • "welche Verluste im Vorwärtsschreiten" vs. "welche Gewinne im Vorwärtsschreiten" sind zu verzeichnen,
stehen dazu auf der Agenda.

Der Blick allein auf die artifiziellen Strukturen reduziert Technik allerdings auf den im Seminar bereits mehrfach kritisierten engen Technikbegriff und würdigt unzureichend, dass Technik als Verfahrenswissen nicht nur Teil des Problems ist, sondern auch Teil der Lösung sein muss.

Dazu wurden im letzten Teil des Vortrags einige neue Phänomenen wie github oder liquid democracy kurz angerissen und in den Kontext einer Debatte um "Schwarmintelligenz" gestellt. Damit wurde wenigstens die Ebene aktueller Möglichkeitsräume angeschnitten, die sich im Zuge des digitalen Wandels im engeren Sinne auftun. Mit Begriffsbildungen einer "Kultur des Offenen" ist hier bereits eine reflexive Höhe von Bedingtheiten von Entwicklung erreicht, die weder Mittelstraß noch die Vortragenden noch die Seminardiskussion überhaupt berührten.

Die Diskussion zum Seminar, vor allem ausgetragen zwischen Herrn Kleemann und mir, drehte sich dann vor allem um die Einordnung der aufgerufenen Debatten in übergreifende Zusammenhänge der vor sich gehenden philosophischen Neufundierung der letzten 50 Jahre, in denen sich die Erfahrungen der Nutzung von Computern und die damit aufgestoßenen Türen neuer epistemologischer Möglichkeiten wiederfinden.

Wenig Chancen hatte ich mit dem Versuch, in der Diskussion die Frage zu thematisieren, dass in den Mittelstraßschen Thesen zugleich die Krise der Industriegesellschaft angesprochen ist. Diese hat aber - auf prinzipieller Ebene - wenig mit den konkreten aktuellen technischen Entwicklungen zu tun, viel dagegen mit der Art und Weise, wie wir seit mehr als 200 Jahren - uns den Göttern ähnlich wähnend - produzieren. Die grundlegenden Probleme einer durch zunehmende Industrialisierung und Einsatz wissenschaftlich-ingenieurtechnischer Rationalität geprägte Entwicklung hatten wir vor einiger Zeit mit den Leipziger Gesprächen zu "Wegen ins 21. Jahrhundert" in den Blick genommen. Im Nachtrag dazu wenigstens drei Begriffe von Fortschritt, in denen diese Fragen auf unterschiedliche Weise thematisiert werden:

  • „Wo sich das geschichtliche Interesse jedoch der Naturwissenschaft und der Technik zuwendet, kann die Realität des Fortschritts nicht geleugnet werden. Man kann hier den Fortschritt präzise erklären: Er besteht darin, dass im fortgeschritteneren Zustand nicht nur die früheren Einsichten vorhanden sind und die früheren technischen Leistungen vollbracht werden können, sondern darüber hinaus auch noch neue, zusätzliche. In der Geschichte der Naturwissenschaft und Technik ist der Fortschritt nicht eine bestreitbare Fiktion, sondern die Vermehrung registrierbarer Leistungen.“ (Karl Steinbuch, Die informierte Gesellschaft, S. 7.)
  • „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
    Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, 1940. These 9.
    Siehe auch die vollständigen Thesen
  • Man and God. Aus dem Cover der Aqualung-CD von Jethro Tull.
Siehe auch: Weitere Literatur zur Krise der Industriegesellschaft:
  • J. Weizenbaum: Kapitel "Gegen den Imperialismus der instrumentellen Vernunft"
  • Mike Davis: Wer wird die Arche bauen?
  • Vladimir I. Vernadskij: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft. Hrsg. v. Wolfgang Hofkirchner. Frankfurt, 1997
  • Ralf Diedrich und Ullrich Heilemann (Hrsg.): Ökonomisierung der Wissensgesellschaft: wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft? Materialien einer Konferenz 2009 an der Universität Leipzig.
Hans-Gert Gräbe, 26.01.2014


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