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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2013-01-15


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Schöne neue Leonardowelt

Termin: 15.01.2013, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-10

Diskussion der Thesen von Jürgen Mittelstraß

Ankündigung

In unserer Diskussion am 08.01. wurde eine Polarisierung in die Betrachtung der Potenziale des Menschen als Gattungswesen und der Potenziale konkreter Menschen problematisiert. Ähnliche Debatten gibt es in der Biologie mit den Begriffen Phylogenese und Ontogenese, mit denen die Entwicklung der Art und einzelner Individuen der Art in ein ähnliches Verhältnis gesetzt werden. Eine wesentliche Erkenntnis über dieses (biologische) Verhältnis lässt sich grob auf die mglw. auch heute noch an Schulen gelehrte griffige Kurzformel "Die Ontogenese des Individuums durchläuft in Kurzform die Phylogenese der Art" reduzieren. Jedoch

Ein wissenschaftstheoretisches Problem der Phylogeneseforschung ist, dass die der Phylogenese zugrundeliegenden Evolutionsprozesse in der Regel nicht direkt beobachtet oder experimentell nachvollzogen werden können. ( Quelle)

Es ergibt sich die Frage, welches Potenzial diese Beschreibungen biologischer Zusammenhänge für ein umfassenderes Verständnis von Entwicklungs- oder Entfaltungszusammenhängen in sich bergen, insbesondere auch für ein besseres Verständnis der Entfaltung des Menschen als Gattungswesen und der Entfaltung konkreter Menschen.

In dieser Entfaltung konkreter Menschen als soziale Wesen spielt das Eindringen in den Kosmos des Wissens und insbesondere die Beherrschung von Technik(en) eine zentrale Rolle. Die Ambivalenzen solcher Möglichkeitsräume hatten wir am 08.01. bereits thematisiert. Sie markieren ein Spannungsfeld zwischen Technikpessimismus und Technikeuphorie, das jede neue Generation von Menschen erneut ausloten und für sich neu gewinnen muss. Das Pendel bewegt sich dabei regelmäßig (rezent mit einer Schwingungsdauer von etwa 50 Jahren) zwischen diesen beiden Polen hin und her. Der Aufsatz von Jürgen Mittelstraß thematisiert diese Frage auf dem Hintergrund der technologischen Entwicklungen der heutigen Zeit.

Literatur:

Zusatzliteratur: Hans-Gert Gräbe, 09.01.2013

Anmerkungen

Die Diskussion blieb eng an den Thesen von Mittelstraß und drehte sich um die Frage, wie es überhaupt zu solchen Thesen kommen kann, da sich die Teilnehmer weitgehend einig waren, dass jene drei Thesen und ihre Begründungen - wenigstens aus der Perspektive eigener praktisch-technischer Erfahrung - ein obskures Bild ergeben und den Eindruck erwecken, als ob der Autor die allfällig kursierenden Märchen und wenig begründeten Visionen einer "digitalen Gesellschaft" für die Wirklichkeit nimmt. Auch wenn sie sich damit dem Verdacht aussetzen, zu jenen (wenig Gebildeten?) zu gehören, die eigene Sorglosigkeit nicht genügend bedenken, insbesondere

"die Sorglosigkeit, mit der sich viele im Netz bewegen und im Verbund mit exzessiver Extrovertiertheit nicht davor zurückschrecken, das Eigene auf Dauer preiszugeben. Aus dem Netz ist nichts zurückzuholen. Das Private, eine wesentliche Voraussetzung von Selbstbestimmung, die als normative Kategorie stets mehr bedeutet als Selbstverwirklichung, geht ebenso wie das Korrektiv der Erfahrung verloren." (Mittelstraß)

Ausgangspunkt war der Eindruck, dass Mittelstraß eine eigentümliche Mischung von Ängsten und Vorurteilen zu einem Gedankengebäude zusammenmischt, das Leute, die enger und unmittelbarer mit den neuen Praxen einer sich "digital" wandelnden und entfaltenden Gesellschaft im Kontakt sind, nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen können. Ein ähnliches Bild eines als "Teppich" vor der Wirklichkeit liegenden "Phantasiegebäudes" hatten wir bereits im Sommersemester 2010 diagnostiziert, als wir uns genauer mit politischen Formungsprozessen der "digitalen Gesellschaft" befassten, wozu insbesondere die gerade durch den Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" Anlass gegeben hatte. Auch hier war der Eindruck überwältigend, dass Fragen diskutiert und Argumentationen aufgefahren werden, über welche die (technischen) Entwicklungen der Zeit längst hinweggegangen sind. Ein solcher Eindruck war besonders stark in Bereichen, in denen die Teilnehmer die technisch-konzeptionellen Bedingungen aus eigener praktischer Erfahrung gut überschauten. Dies provozierte damals die Frage, ob der fatale Eindruck nicht auch auf andere Fragen zu übertragen ist, in denen die Teilnehmer auf Grund fehlender eigener praktischer Erfahrungen auf das Urteil des "common sense" angewiesen sind und dieses bisher auch kritiklos übernommen haben, ob also der "Teppich", der unmittelbar vor ihnen deutlich zeigt, dass er etwas verhüllt, nicht auch links und rechts von ähnlicher Beschaffenheit ist, allein die "optischen" Effekte zuverlässiger wirken.

Bereits damals stand die Frage im Raum, welche Funktion ein solcher dicht gewebter "Teppich von Illusionen" (in diesem Seminar hatte ich auch schon die Metapher der Spiegel bemüht) haben mag, denn seine Gesellschaft formende Rolle ist ja kaum zu übersehen. Mit den bisherigen Überlegungen aus dem aktuellen Seminar lässt sich das Phänomen relativ klar als Wandel von (u.a. Wissens-) Ordnungen beschreiben, wobei der durchsichtiger werdende "alte Teppich" nicht den Blick auf die "Wirklichkeit", sondern (vermutlich) auf einen "neuen Teppich" frei macht, welcher der neuen Etappe eines sich fortschreitend entfaltenden Prozesses der "Menschwerdung als Gattung" angemessener ist als der alte.

Ich verweise in dem Zusammenhang auf einige eigene Überlegungen zu "langen Wellen und globaler Krise", in denen insbesondere die genauere zeitliche Taktung der aktuellen Umwälzungsprozesse thematisiert wird. Denn wir hatten ja schon gesehen, dass Debatten, die noch bis etwa 2005 relativ unisono über "nachhaltige Informationsgesellschaft", "Wissen und Information" und ähnliche Fragen in Deutschland geführt wurden, danach auf eigenartige Weise abgebrochen sind, und die Neuaufnahme derselben Debatten 2010 durch die Enquete-Kommission nur müdes Lächeln über die "ewiggestrige" Politik ausgelöst hat.

Fast nahtlos ergab sich daraus in unserer weiteren Diskussion die Einordnung des Aufsatzes von Mittelstraß in ein zwischen Religion und Ideologie liegendes Tagwerk der Philosophen und Ideologen zur Reproduktion bestehender geistiger Ordnungen, das wohl in dieser Deutlichkeit allein in Umbruchperioden zu sehen ist. Kleemann hat besonders diese Frage mehrfach aufgegriffen und aufgezeigt, wie geschickt dabei die Fäden verwoben werden, um die Illusionen zu erzeugen, in deren Maschen sich Mittelstraß letztlich selbst verfangen hat.

Bleibt die Frage nach weiteren, früheren oder späteren Wandeln geistiger Ordnungen, um die aktuelle - die möglicherweise vor allem ein Wandel der Wissensordnung ist - korrekt einzuordnen. Hat sie das Potenzial, die kapitalistische Ordnung, die ja vor allem eine Eigentumsordnung ist, zu sprengen, wie gerade im Umfeld der Keimformgruppe intensiv diskutiert? Oder ist es eine weitere "Häutung der Schlange Kapitalismus", von der Marx bereits im Kommunistischen Manifest schrieb

"Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. ( Quelle)

Ein "Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen" (Altvater), der nach dem Fabrik-Kondratjew (1825-1873), dem Ingenieurs-Kondratjew (1873-1929), dem Organisations-Kondratjew (1929-1974), dem Computer-Kondratjew (1974-2008) nun am Beginn des Kommunikations-Kondratjew (die zeitliche Einordnung bis 1974 folgt [Poletajew/Saweljewa], die Bezeichnungen sind von mir) die Tür zu einer neuen kapitalistischen Weiterentwicklung aufgestoßen hat?

Oder sind derartige Fragen über einen "Kommunismus, wie wir ihn noch nicht kennen", für eine sinnvolle Periodisierung der Verzahnung technischer Produktivkraftentwicklungen und Umwälzungen geistiger Ordnungen weitgehend ohne Belang, weil sie sich schlicht auf einer anderen zeitlichen Skala abspielen und in jeder Umwälzung geistiger Ordnungen ein Stück mehr "Kommunismus" als menschliche Gesellschaft im Sinne der 10. Feuerbachthese zur Entfaltung kommt?

Wäre es aber an dieser Stelle dann nicht angezeigt, etwas mehr Dialektik beizumischen und auch das “Denken, das sich bemüht Gesellschaft zu verstehen” als Entfaltung eines solchen dialektischen Widerspruchs zu konzipieren? Wäre dann aber das kommunistische Element vielleicht nur die Denkform einer überschüssigen Utopie im Heute, eines noch nicht Entfalteten, eines Noch-Nicht im Blochschen Sinne? ( Quelle)

Wie dem auch sei, mit dieser Diskussion haben wir insofern eine Punktlandung vollbracht, als beim nächsten Mal Herr Pfahl über "Freie Wissensordnungen" vortragen und damit den aktuellen Wandel der geistigen Ordnung genauer thematisieren wird.

Literatur:

  • Hans-Gert Gräbe: Lange Wellen und globale Krise. Manuskript, November 2012. Erscheint in Sozialgeschichte online
  • Andrei W. Poletajew, Irina M. Saweljewa, „Lange Wellen“ und die Entwicklung des Kapitalismus, in: Sowjetwissenschaft / Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 2/1989, S. 142 ff.
Hans-Gert Gräbe, 26.01.2013


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