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Hans Gert Graebe / Seminar Wissen /
2012-12-04


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Was ist Wissen? Wissensregime und Epochen

Termin: 04.12.2012, 15.15 Uhr

Ort: Seminargebäude, SG 3-10

Diskussion auf der Basis von vier Texten

Ankündigung

Nach der ersten Annäherung an einen Wissensbegriff über "Geschichte und Geschichten" im letzten Seminar geht es nun darum, dessen dynamische und reproduktive Dimension etwas genauer zu fassen, wobei insbesondere die Rolle von Technik im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften einerseits und einer "kulturalistischen Wende" andererseits genauer betrachtet werden soll.

Bitte beachten Sie dazu auch meine Anmerkungen zum letzten Seminar und die Folien des Vortrags von Herrn Johanning.

Texte:

  • Helga Schultz: Die kulturalistische Wende. Eine kritische Bilanz. Lifis online 19.11.09
  • Gerhard Banse: Technisches und Kulturelles. Anmerkungen zu Interdependenzen. Lifis online 08.03.10
  • Hans-Gert Gräbe: Anmerkungen zur Summer School 2012 der Berlin Group of Radical Thinking, 10.–11. August 2012. pdf
  • Hubert Laitko: Der Wandel des wissenschaftlichen Denkens und die Entwicklung der Menschheit. Tendenzen der letzten 400 Jahre. In: MINT - Zukunft schaffen. Innovation und Arbeit in der modernen Gesellschaft. Open Access Publikation, Leipziger Beiträge zur Informatik Band 32, Leipzig 2012. S. 11–26.
Hans-Gert Gräbe, 2.12.2012

Anmerkungen

Mit der Diskussion sind wir sehr unvermittelt an der vordersten Front philosophischer Debatten angekommen und es zeigen sich auch ernsthafte Differenzen in der Herangehensweise. Hierzu möchte ich als erstes noch ein paar Argumente beisteuern, denn die Kritik an Hoevels (auch wenn sie durchaus berechtigt sein mag) ging mir doch zu schnell über die Bühne.

Ich halte einen transzendentalphilosophischen Zugang zu den uns bewegenden Problemen selbst als intermediäre Arbeitshypothese eines "lassen wir uns auf die Argumente der Poststrukturalisten ein" für wenig hilfreich, da neben der Intentionalität menschlichen Handelns noch wenigstens zwei weitere Faktoren zu berücksichtigen sind, die wir bisher nicht wirklich auf der Agenda hatten: Illusionen (dass wir uns mit unseren Stories in einer Folge von "Spiegelsälen" bewegen und das "Zerschlagen von Spiegeln" in einem Epochenbruch keine "Wirklichkeit", sondern nur weitere "Spiegel" zum Vorschein bringt, hatten wir ja schon mehrfach diskutiert) und die Abgründe der menschlichen Seele. Kleemanns Rekurs auf "normale Menschen", also keine mit psychsichen Abnormitäten, vermeidet es, über genau diese Abgründe auch nur zu sprechen - Hoevels (studierter Romanist, praktizierender und theoretisierender Psychotherapeut in Freiburg) schaut lustvoll und mit psychoanalytischem Scharfsinn in genau diese Abgründe. Besonders die hartnäckigen Illusionen (und gerade auch Religion, etwa die 10 Gebote) erfüllen ganz offensichtlich eine Wächterfunktion vor den Abgründen der menschlichen Seele, und diese Wächterfunktion ist sozial aufgeladen und mit mannigfachen Strafen bewehrt. In früheren Zeiten war das Überschreiten dieser sozialen Grenzen für einzelne Individuen noch viel gefährlicher, weil unmittelbar die private Existenz bedrohend. Was bedeutet es, wenn wir heute, gerade auch durch die gemeinsam geschaffenen technischen Möglichkeiten, ein Stück weit aus diesem Bedingungsgefüge heraustreten? (so fragt Hans-Peter Dürr im "Potsdamer Manifest") Was bedeutet es, mit den narzisstischen Kränkungen der Menschheit in uns und anderen dauerhaft konfrontiert zu sein?

“Aber wie haben wir diese Freiheit zu verstehen, wenn sie nicht die törichte Freiheit sein soll, das Falsche zu tun? Wie bewahren wir uns und die Welt mit uns vor unserer Willkür, nachdem wir ein Stück weit aus dem Bedingungsgefüge der ‚Ko-evolution’ herausgetreten sind?” ( Quelle)

Intentionalität menschlichen Handelns ist ganz sicherlich durch derartige Mechanismen konditioniert, Möglichkeitsräume von Intentionalität also in keiner Weise transzendental zu fassen, auch nicht für eine intermediäre Theorie (wenigstens nicht im Sinne des historischen Materialismus). Im Gegenteil, jeder ernsthafte Beschreibungsversuch wird sich in diesem Dreieck bewegen müssen. Soziale Santkionsmechanismen sind aber bei unseren tierischen Vorfahren weit verbreitet, und man muss dazu nicht Hoevels lesen, sondern findet auch bei moderateren Autoren (insbesondere Karl-Fried Wessel) umfassende Theorien über Menschen als "bio-psycho-soziale Einheit" oder eine Humanontogenetik. Aus dieser Ecke kommen auch die biologistischeren Argumente im Aufsatz von Fuchs-Kittowski.

Gleichwohl ist Kleemanns scharfe Reaktion auf Hoevels nur zu verständlich, weil sich der historische Materialismus im Überschreiten eines von einem humanistischen Menschenbild ausgehenden Ansatzes (wie Kant, Hegel und weitere freimaurerische Tradition) natürlich fragen lassen muss, wie er Humanismus als abgeleitete Größe zu gewinnen trachtet. Der historische Materialismus ist eine solche Ableitung, wenigstens in seinen bisherigen Praxen, aber bis heute schuldig geblieben ist (Althusser, später bekanntlich mit den eigenen menschlichen Abgründen konfrontiert, diagnostiziert 1974 an jener Stelle des Überschreitens einen regelmäßigen auch "theoretischen Antihumanismus"). Da macht Hoevels keine Ausnahme, wenn seine exzellente Analyse psychoanalytischer Zusammenhänge in den Aufruf zu bolschewistischen Praxen mündet. Die Genese einer adäquaten Sprache für die genauere Analyse der Dynamik dieser Umschlagpunkte (spannend dazu auch Erich Köhlers "Trollroman") steht noch aus. Althusser dazu:

The only more or less serious objection which can be made to the thesis of Marx's theoretical anti-humanism is, I must be honest enough to admit it, related to those texts which, in Capital, return to the theme of alienation. I say purposely: the theme, because I do not think that the passages in which this theme is taken up have a theoretical significance. I am suggesting that alienation appears there not as a really considered concept but as a substitute for realities which had not yet been thought out sufficiently for Marx to be able to refer to them: the forms, still on the horizon, of organization and struggle of the working class. The theme of alienation in Capital could thus be said to function as a substitute for a concept or concepts not yet formed, because the objective historical conditions had not yet produced their object. If this hypothesis is correct, it becomes possible to understand that the Commune, in answering Marx's expectations, rendered the theme of alienation superfluous, as did the whole of Lenin's political practice. In fact alienation disappears from Marx's thought after the Commune, and never appears in Lenin's immense work.

Ich komme auf den zweiten wichtigen Punkt unserer Diskussion zu sprechen, den "Quantensprung der Geisteswissenschaften", der sich aus dem Umdrehen logischer Kausalität im Henne-Ei-Kontext der von den Individuen (auch als Ergebnis ihrer Kommunikation) geprägten sozialen Bedingtheiten und den durch soziale Bedingtheiten geprägten (kommunizierenden) Individuen ergibt. Ein solches Umdrehen logischer Kausalität durch Ontologisierung relationaler Kategorien hat im 20. Jahrhundert als "epistemologischer Trick" wenigstens zweimal Teile der Wissenschaft revolutioniert - Ende der 20er Jahre die Physik durch die Etablierung der Quantenphysik und in den 60er Jahren die Algebraische Geometrie durch die Etablierung von Schemata. In unserem Kontext bedeutet es, den Ausgangspunkt der Beschreibungen nicht bei den Individuen zu nehmen, die sich in soziale Relationen begeben, sondern die Beschreibungen bei den sozialen Relationen zu beginnen. Die Tragkraft eines solchen Ansatz müssen wir unbedingt weiter ausloten, da er sich mit der Erfahrung aus agiler Modellierung, dass die Relationen (Verben) und nicht Klassen und Entitäten am Beginn einer solchen agilen Modellierung stehen, unmittelbar trifft. Kleeman behauptet, dass damit das Schichtenmodell der Infomation obsolet sei. Auch das wird noch einmal genauer zu betrachten sein. Vielleicht haben wir ja auch nur nicht die richtige Formulierung gefunden in dieser neuen, uns ungewohnten Sprache.

Diese Fragen blieben bei unserem "philosophischen Höhenflug" diesmal aus zeitlichen Gründen weitgehend auf der Strecke.

Lit:

  • Althusser: Is it Simple to be a Marxist in Philosophy? html
  • Hoevels: Wie unrecht hatte Marx wirklich? Band I – Gesellschaft und Wirtschaft. Ahriman Verlag, Freiburg/Br. 2009.
  • Hoevels am 22.03.2007 in Leipzig zum "sekundären Krankheitsgewinn".
  • Erich Köhler: Sture und das deutsche Herz. Ein Trollroman.
Hans-Gert Gräbe, 5.12.2012


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