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Anmerkungen eines Demographen

Einige Überlegungen zu den 10 Thesen von Peter Fleissner

Das Herzogtum Braunschweig war bis zu seinem Beitritt in den vom Königreich Preußen dominierten Deutschen Bund ein souveräner Staat, der mit präzisem Verwaltungswissen die überschaubaren Verhältnisse souverän gestalten konnte. Bei der Modernisierung des Staats im Übergang vom feudalen Agrar- zum Industriestaat übernahm das räumlich kleine, aber geistig bedeutsame Herzogtum in vielerlei Hinsicht eine Pionierrolle - vor allem durch den seit dem 18.Jh. eingeschlagenen reformerischen Weg der Gestaltung des politischen und sozialökonomischen Wandels durch die zielstrebige Nutzung von Potenzialen der Wissenschaft.

Zu Fleissners These 1

1.) Mit dem Collegium Carolinum, der heutigen Technischen Universität Braunschweig schuf das Herzogtum 1746 eine moderne Bildungsanstalt, in der nicht Jurisprudenz und Theologie eine Führungsrolle hatten, sondern Mathematik und Fächer, die für die weltmännische Orientierung der Bildungsbürger und für den Erwerb innovativen technologischen Wissens von zunehmender Bedeutung wurden.

2.) Die General-Landesvermessung von 1746 bis 1784 war ein aufwändiges Unternehmen, das es in Europa vor dem 19.Jh nur noch im Königreich Dänemark gegeben hat. Die Landesvermessung nach den fortschrittlichsten Methoden der Geodäsie diente einerseits der Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse und war andererseits ein grundlegender Schritt zur gerechten Besteuerung des Landbesitzes. Deshalb wollte sich der Adel mit seinem Besitz auch nicht vermessen lassen. Doch da die Landmesser die gesamte Feldmark einer Gemeinde vermessen haben, konnten sie durch Abzug des speziell vermessenen bäuerlichen Besitzes von der Gesamtfläche als Restfläche den steuerfreien herrschaftlichen, adligen und sonstigen priviligierten Besitz allgemein feststellen.

3.) Von 1831 bis 1849 wurde im Herzogtum Braunschweig zum Zwecke der Kapitalisierung des Grund- und Bodens und in Vorbereitung der 1850 eingeführten Grundsteuer das gesamte Staatsgebiet mit seinen Äckern, Gärten, Wiesen, Weiden, Hofräumen, Straßen und Wegen, Gewässern aller Art, Kiesgruben und sog. Unland bonitiert und die Bodenwertzahl in der Form "Grundsteuerkapitalwerth pro Hektar" erfunden. Grundlegend war hierbei die Arbeit des braunschweigischen Professors Philipp Carl Sprengel, des Vaters der chemischen Bodenkunde.

Zu Fleissners These 2

1.) In Reaktion auf die Ereignisse der Französischen Revolution führte die Kameralverwaltung 1793 unter Herzog Carl Wilhelm Ferdinand, der 1792 als Oberbefehlshaber der preußisch-österreichischen Interventionsarmee bei Valmy gegen die Franzosen eine große Niederlage erlitten hatte, eine agrarpolitische Strukturreform durch, die das numerische Verhältnis der agrarischen Klassen untereinander zum Vorteil jeder einzelnen empirisch ermittelte und festlegte. Gab es zu wenig oder zu viele Spanndienster im Verhältnis zu den Handdienstern war dies für beide Klassen von Nachteil - und umgedreht. Außerdem waren durch die Festschreibung des bäuerlichen Besitzes den Arrondierungsbestrebungen des Adels auf Kosten des bäuerlichen Besitzes Grenzen gesetzt. (siehe Werner Deich, Politische Arithmetik 1793. Die Harmonisierung der Dienst- und Steuerklassen im Herzogtum Braunschweig. http://www2.hu-berlin.de/leibniz-sozietaet/journal/archiv_2_06.html) Meines Erachtens hat das 16-jährige braunschweigische mathematische Genie, Carl Friedrich Gauß, der vom Herzog gefördert wurde, durch die in der Mathematikgeschichte auf 1793 datierte Erfindung der Methode der kleinsten Quadrate die wissenschaftliche Grundlage für die Strukturreform von 1793 geschaffen.

2.) Mit der konservativen Festschreibung des bäuerlichen Besitzes und der darauf nach Klassenabstufungen aufgebauten Bauernstellen, die bis 1874 dem Prinzip der Geschlossenheit, d.h. der Unteilbarkeit der Höfe, unterworfen waren, sind die Besitzbauern im Herzogtum Braunschweig sehr zufrieden gewesen, so dass sie sich in den revolutionären Zeiten von 1830 und 1848 nicht gegen die Regierung, wohl aber gegen unzufriedene unterbäuerliche Schichten gewandt haben. Eine Planungsformel, die bei ständiger Zunahme der Bevölkerung für die Konstanthaltung der Stellenverhältnisse funktionierte, ist m.E. in der Zeit von 1794 bis 1798/1802 von Gauß geschaffen worden - eine Formel, die mit seiner Entdeckung des arithmetisch-geometrischen Mittels (agM) verbunden war.

3.) Die Berechnung der demografischen Tragfähigkeit des Bodens nach Maßgabe der Bodenqualität, d.i. nach der Bodenwertzahl, ist vermutlich auch eine späte Leistung von Gauß für den braunschweigischen Staat. Durch die Korrelation der Bodenwertzahl mit der demografischen Tragfähigkeit ergab sich eine mathematisch-statistische Richtlinie für die Schaffung von 3350 neuen Anbauernstellen für die Planungsperiode von 1850 bis 1874.

4.) In dieser Planungsperiode wurde der korporative Weidebesitz der sog. Reihebauern privatisiert - ein wiederum sehr arbeitsaufwändiges und kostspieliges gesellschaftliches Unternehmen zur Auflösung der Allmende, das gemeinhin als Gemeinheitsteilung bezeichnet wird. Die Aufteilung der Gemeinheiten (im Braunschweigischen als Änger bezeichnet) schuf die Grundlage für die moderne Landwirtschaft, die im Land Braunschweig mit einer umfangreichen arbeits- und technologieintensiven Zuckerrübenindustrie verbunden war und der Anlass gewesen ist, weshalb so viele neue Kleinstbauernstellen geschaffen wurden. Die Planungsrichtlinie bestimmte nicht nur das Ausmaß neuer Anbauernstellen, sondern auch das Ausmaß der Auswanderung. In der Zeit von 1850 bis 1874 galt das Herzogtum Braunschweig als agrarindustrielles Musterland. Nach dem Verlust der staatlichen Souveränität 1867 und dem katastrophalen Fall des Weltzuckerpreises 1900 gab es eine Überbevölkerung im Herzogtum Braunschweig. Als Erklärung für den Verlust seiner Vorrangstellung auf dem Feld konkurrierender Produktionsverhältnisse muss für das Herzogtum Braunschweig neben dem Verlust souveräner Gestaltungsmacht die Zunahme des Welthandels mit der Konzentration und Verlagerung der wirtschaftlich-politischen Schwergewichte und des großen Kapitals auf Länder wie England und in Deutschland auf das Ruhrgebiet, Sachsen und die Reichshauptstadt Berlin in Betracht gezogen werden. Die überschüssige Landbevölkerung im Freistaat Braunschweig, als Nachfolger des Herzogtums, bildete nach 1920 ein Sammelbecken für Hitlers Gefolgschaft. Hitler selbst nannte den Freistaat Braunschweig das "Nationalsozialistische Musterland".

Mit Blick auf Fleissners These, dass es darauf ankomme, die Ursachen der Krisensymptome zu erkennen und Frühwarnsysteme zu entwickeln, stelle ich mir die Frage: wird Deutschland nach der zunehmenden Einbuße von Gestaltungsmacht zugunsten der EU und nach zunehmenden weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Substanzverlusten bei zunehmendem Sozialabbau zuhause nicht irgendwann auch wieder einmal ein Musterland sein wollen? Meine Vorstellungen gehen in eine andere Richtung, nämlich dass man die Potenziale der Wissenschaft zum Wohle der ganzen Menschheit nutzt. Die Bilanz des Aufstiegs von Entwicklungsländern und des Abstiegs von Industrieländern muss nicht negativ verlaufen. Ohne eine gerechte Ausgleichsstrategie wird es allerdings nicht gehen. Meine konkrete Hoffnung für eine vernünftige Gestaltung der Welt besteht darin, dass immer mehr Menschen aufgrund von Wissen, das sie in einer sich formierenden Informationsgesellschaft erwerben, Verantwortung übernehmen und anderen Menschen, vor allem den Mächtigen im Kampf um Demokratie und Durchsetzung humanistischer Menschenrechte abverlangen.

Werner Deich, 11.03.2010