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Hans Gert Graebe / Philo Debatte /
2012-01-18


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Philosophie und Informatik - Eine Debatte

18.01.2012 15 Uhr in der Johannisgasse 26, Raum 1-22

Wir wollen noch einmal das Thema "Glauben und Wissen" und die Bedeutung der "Wissenden" im Sinne von Mittelstraß in der heutigen Zeit zu diskutieren.

Ankündigung

Das Verhältnis von Glauben und Wissen und die Bedeutung der "Wissenden" beschäftigt die Philosophie seit vielen Jahrhunderten. Helmut Seidel [3] schreibt hierzu (S. 58) "Natürlich sind politische, ökonomische, juristische und ethische Impulse keineswegs die einzigen Elemente, die philosophische Systeme konstituieren. Zum Unterschied von der Religion zeichnet sich Philosophie dadurch aus, dass sie Haltungen und Handlungen von Menschen rational zu begründen sucht. Eine solche Begründung ist nur möglich, wenn sie sich auf Wissen stützt. Ursprünglich wurden die Wissenden Philosophen genannt also jene, die wussten, unter welchen Bedingungen es eine gute Ernte geben würde, wo man Brunnen und Siedlungen anzulegen hat, was bei Krankheit des Körpers zu tun ist, wann für ein Unternehmen die Sterne günstig stehen usw. Die Produktion von Wissen ist ja urwüchsig mit der Produktion des materiellen Lebens verbunden. Im eigentlichen Sinne entsteht Philosophie aber erst dort, wo das Bewusstsein von Gegenständen selber zum Gegenstand gemacht wird. ... Dieser Fortschritt vom Denken über reale Gegenstände, die uns in der sinnlichen Anschauung gegeben sind, zum Denken des Denkens, vom Bewusstsein über Gegenstände zum Selbstbewusstsein, war die Voraussetzung dafür, dass die folgenden wesentlichen philosophischen Fragen bewusst gestellt werden konnten: 'Wie verhalten sich die Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen?' (Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie)".

Wie ist es aber um dieses "Spiegelbild der Wirklichkeit" bestellt, welcher Dynamik unterliegt es und in welchem Verhältnis steht dessen Dynamik zur Dynamik von Welt? Im Abschnitt "Glauben, Verstehen und Begreifen - die vergessene Transzendenz" (S. 117 ff.) schreibt Hans-Peter Dürr [1] dazu "Aus dem Studium von 3000 Jahren Wissenschafts- und Kulturgeschichte habe ich gelernt, dass zu jeder Zeit die Gefahr besteht, die Wahrheiten, die wir gefunden zu haben glauben, in ihrer konkreten Ausdeutung und Bedeutung zu überschätzen. Aber wir wollen auch nicht in den umgekehrten Fehler verfallen, alles, was nun nicht allen rationalen Argumenten standhält, komplett zu verwerfen. Interessant erscheint mir aus heutiger Sicht vielmehr, dass vieles, was sich einmal in einem tieferen Sinne als wahr erwiesen hat, in gewisser Interpretation auch wahr bleibt, obwohl die Aussagen in ihrer Fülle, konkret betrachtet, auseinanderklaffen und sich sogar widersprechen. Solche Aussagen dürfen immer nur als Gleichnisse für das nicht begreifliche Transzendente gesehen werden. Sie werden deshalb gewissermaßen erst von einer höheren Warte aus miteinander verträglich."

Zu moderner Science, wie sie von Hubert Laitko in dessen Aufsatz [2] thematisiert wird, stellt Dürr fest, dass sie mit ihren quantifizierenden Methoden stark auf das "Wie" fokussiert - "wie ist ein Fisch beschaffen" - und schwächer als frühere Ansätze auf das "Was" - "was ist ein Fisch". Weiter schreibt Dürr (S. 121): "Durch diese Beschränkung sind Quantifizierung und durch Zahlen bemessene Exaktheit (und als weitere Konsequenz die mathematische Formulierung der exakten Naturwissenschaften) möglich. Obgleich die moderne Wissenschaft eindrucksvoll zeigt, dass sehr vieles vom 'Was' seine Erklärung in einem 'Wie' findet, ist doch gut nachvollziehbar, dass die so reduzierte Wirklichkeitsbeschreibung nur noch sehr bedingt mit der größeren Wirklichkeitsbeschreibung zu tun hat, in die sie eingebettet ist. Aber diese Einsicht ist wichtig für einen konstruktiven Dialog, zum Beispiel zwischen Naturwissenschaft und Religion. Sie ist als Hinweis wertvoll, dass auch Religion ihr Ziel verfehlen muss, wenn sie in ihrem verständlichen Betreben, ihre Botschaften schärfer und einprägsamer zu fassen, metaphorisch Zeigendes durch eindeutig Begreifbares zu fixieren sucht."

In dem Sinne sollten wir noch einmal die Überlegungen von Hubert Laitko aufnehmen, dessen Text nun auch in einer neu gefassten autorisierten deutschen Version vorliegt.

Literatur:

  • [1] Hans-Peter Dürr: Warum es ums Ganze geht. oekom Verlag, München 2009.
  • [2] Hubert Laitko: Der Wandel des wissenschaftlichen Denkens und die Entwicklung der Menschheit. Tendenzen der letzten 400 Jahre. In: MINT – Zukunft schaffen. Innovation und Arbeit in der modernen Gesellschaft. Hans-Gert Gräbe, Ingo Groepler-Roeser (Hrsg.) – Leipzig, 2012. Reihe Leipziger Beiträge zur Informatik; Band XXXII. pdf
  • [3] Helmut Seidel: Warum und zu welchem Ende studieren wir Philosophiegeschichte? U.a. in Helmut Seidel: Philosophie vernünftiger Lebenspraxis. Hrsg. von Volker Caysa. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2009.
Hans-Gert Gräbe, 31.12.2011

Bericht

Wie nicht anders zu erwarten waren wir schnell bei sehr grundsätzlichen Fragen. Die erste bezog sich auf die Warte der Geringschätzung, mit der aus der Perspektive von "Wissen" (im Sinne moderner Science) auf "Glauben" herabgeschaut wird. Natürlich ist hier mit Glauben nicht Aberglaube eines verängstigten Individuums gemeint (auch diese eher psychoanalytische Dimension von Glauben wurde kurz angeschnitten), sondern ältere Formen von Wissen, die von Science als "vorwissenschaftlich" abgetan werden. Es herrschte weitgehend Einmütigkeit darüber, dass es sich dabei nicht allein um ein historisches Phänomen handelt, das Wort "vor"-wissenschaftlich also allenfalls als vorläufiger Arbeitsbegriff durchgehen kann. Das besondere Markenzeichen von Science, im Gegensatz zu "Glauben" mit ihrem Anspruch auf Objektivität eine höhere Form von Rationalität zu verkörpern, kam dabei gründlich unter die Räder. Insbesondere scheinen die ethischen Grundsätze großer Naturwisssenschaftler wie Albert Einstein, Klaus Fuchs oder Hans-Peter Dürr gerade einen solchen nicht-szientistischen Ursprung zu haben, womit sie in der Lage sind, tektonische Beben einer praktischen Anwendung von Science (etwa die Problematiken der Nutzung der Atomenergie) über mehrere Jahrzehnte "vorauszufühlen" und damit frühzeitig Sensibilisierungsprozesse in Gang zu setzen wie aktuell mit dem "Potsdamer Manifest".

Mit Blick auf das Diktum "Die Materie der Erkenntnis kann nicht gedichtet werden" und der Entgegnung "aber wir können dichten" wird klar, dass es sich bei Glauben und Wissen (letzteres im Sinne moderner Science) um verschiedene epistemische Formen des Zugangs zu Erkenntnis handelt und der Objektivitätsanspruch moderner Science etwas mit der Überhöhung einer epistemischen Form in den letzten 400 Jahren zu tun hat. Welche Bedeutung haben, welche Zusammenhänge bestehen zwischen "archaischen" und "modernen" Beschreibungs- und Wissensformen? Wie hängen diese mit "archaischen" und "modernen" Praxen zusammen? Es gilt, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten und nach Gründen zu suchen, die zu einer solchen Überhöhung geführt haben - ein in den nächsten Debatten weiter zu verfolgendes Vorhaben.

In einer weiteren sehr grundsätzlichen Debatte ging es um das - angebliche oder wirkliche - mittelbare Verhältnis des modernen Menschen zu den Ergebnissen seines Tuns. Dieser gerade in marxistischer Tradition zentrale Ansatz, "der moderne Mensch schiebe das Mittel zwischen sich und die Natur", wurde als eng mit den epistemischen Konstruktionen von Science verbunden charakterisiert und der Objektivitätsanspruch moderner Science besonders im Verhältnis Mittel-Natur verortet. In der Mensch-Mittel-Perspektive spielen dagegen zufällige Momente eine größere Rolle - etwa bezieht man sich, positiv oder negativ, auf die unsichtbare Hand des Marktes. In einer kommunistischen Utopie spielt die planmäßige Gestaltung auch jener Räume durch die "Assoziation freier Produzenten" eine wichtige Rolle; bei Dürr wird eine solche Übertragung als mechanistisch-materialistisches Weltbild gebrandmarkt, das es zu überwinden gelte. Auch Poppers Ansatz einer offenen Gesellschaft favorisiert eine eher gegenteilige Entwicklungsperspektive. Wasser auf die Mühlen einer Reformulierung von Kapitalismuskritik? Auch hier viel Holz für weitere Debatten.

Es scheint weitgehend klar, um was es dabei letztlich geht - mit der Mittelperspektive kommt zum Ausdruck, dass die einem Denken-Denken entspringenden kooperativen Beschreibungen von Welt wirkmächtiger werden und dem Menschen in Form von Technik zunehmend als zweite Natur entgegentreten. Die Bedeutung des Umstands, dass "Beschreibungen von Welt" selbst Teil der Welt sind, wächst und zwingt zu einer reflektorischen Dimension des Denken-Denken-Denkens. So weit waren wir bereits früher gekommen.

An diesem Tag stand in unserer Debatte zunächst die Frage, was denn eine solche Wirkmächtigkeit mit Schöpferkraft zu tun hat und mit den Möglichkeiten und Grenzen der gemeinsamen Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen. Der affektiv positive Bezug auf die gelungene Umsetzung einer Idee als Moment persönlichen Schöpfertums führt schnell zur Frage, ob nicht die Welt als Ganzes nach einem Schöpferprinzip funktioniert und ob deshalb nicht ein Schöpfer an den Anfang allen Philosophierens zu setzen sei. Diese von uns eigentlich schon früher in einem monistischen Verständnis von Welt beantwortete Frage tritt im Zusammenhang mit Kreativität, Wissen und vor allem Technik mit neuer Schärfe hervor. Dürr [1] geht davon aus, dass Schöpfen eine grundlegende und dauerhafte Eigenschaft von Materie selbst ist, ein elementarer Teil ihrer internen Bewegungsformen, der keines externen Agens zur Beschreibung bedarf, und führt dazu Argumente der Quantenphysik an. Eine seiner zentralen Thesen (S. 97): "Materie ist nicht aus Materie zusammengesetzt. Atome und ihre 'Bausteine' haben nicht mehr die Eigenschaft von Materie" (in einem klassischen Verständnis). Aus einer solchen Warte heraus ist eine weitere epistemische Bruchstelle unserer Beschreibungsformen, vergleichbar mit der zwischen "vorwissenschaftlichen" und "wissenschaftlichen" zu erwarten, mit der Schöpfen als Grundeigenschaft von Materie adäquat in diesen unseren Beschreibungsformen verankert wird. Dürr: "Learn to think in a new way."

Bei einem derart gründlichen Bruch nicht nur in unseren Denk-Gewohnheiten, sondern auch der epistemischen Gewissheiten des Denken-Denkens kann die Frage nach einem Grund in einer derart bodenlosen Denkwelt nicht ausbleiben. Die Antwort in einem praxisphilosophischen Sinne kann nur sein, dass Affektivität und sinnliche Bindung an die Welt in einer tätigen Auseinandersetzung mit den eigenen und gemeinsamen Lebensbedingungen die einzige Quelle von Erfahrung als Bindeglied zwischen Welt und Beschreibungen von Welt ist. Mit diesem Gedanken bewegen wir uns weiter auf dem von Helmut Seidel in den Traditionen insbesondere von Spinoza vorgezeichneten Weg [1]. Mit Blick auf die hohe affektiv-emotionale Wirkung eines gelungenen Werks einerseits und die eines harmonischen Natur-Ganzen andererseits warf ich erneut die bereits in [4] diskutierte Frage auf, ob Lebewesen neben den bekannten 5 Sinnen über wenigstens zwei weitere Sinne verfügen, ob also die affektiv-sinnliche Bindung an die Welt nicht deutlich breiter ist als dies heutige Beschreibungsformen von Welt thematisieren.

Eine letzte Debatte entzündete sich an der Frage des Zugangs zur ersten oder zweiten Natur über Begriffe eines Innen und Außen, über die das Verhältnis der Innenwelt eines Menschen zur Außenwelt der vorgefundenen Bedingungen zu fassen sei. Wir waren uns schnell einig, dass die "vorgefundenen Bedingungen" keineswegs so vorgefunden sind, wie dies der Begriff zunächst suggeriert, sondern hier ein komplexes Koevolutionsverhältnis von Prozessen vorliegt, die sich auf sehr verschiedenen Zeitskalen entfalten. Insbesondere die Fassung des "Außens" als die "anderen Innens" ließ die Vorstellungswelten wieder einmal aufeinander krachen. Aus Sicht des Philosophen bedarf es besonderer Vorkehrungen, um im Ganzen mehr als die Summe seiner Teile - insbesondere relationale Abhängigkeiten - zu sehen. Aus der Sicht des Mathematikers ist es schlicht das falsche immersive Bild, über das hier die Teile in das Ganze eingebettet werden. Sind Z_1,...,Z_n die lokalen Zustandsräume der Teile 1,...,n, so ergibt sich der globale Zustandsraum des Gesamtsystems nicht als Vereinigung Z' = Z_1 u Z_2 u ... u Z_n der Zustandsräume der Teile, sondern als deren kartesisches Produkt Z = Z_1 x Z_2 x ... x Z_n. Neben dem gewaltigen Unterschied in der Anzahl der globalen Systemzustände (Produkt der Größen der Teile gegen deren Summe) unterscheiden sich beide Perspektiven vor allem im Zusammenhang zwischen Teil und Ganzem; während die Teile über eine Einbettung ( Immersion) Z_i -> Z' mit der "Summe der Teile" verbunden sind, sind sie es über eine Projektion ( Submersion) Z -> Z_i im Fall des kartesischen Produkts. Der submersive Zugang zur Systemtheorie impliziert insbesondere, dass im Teil stets das Ganze in reduzierter (projizierter) Form wiederzufinden ist.

  • [4] Hans-Gert Gräbe: Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft (Chemnitzer Thesen). In: Utopie kreativ 194 (2006), S. 1109-1120. pdf
Hans-Gert Gräbe, 22.01.2012


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