[Home]
Hans Gert Graebe / Philo Debatte /
2011-11-02


Home
Neues
TestSeite
DorfTratsch

Suchen
Teilnehmer
Projekte

GartenPlan
DorfWiki
Bildung+Begegnung
DorfErneuerung
Dörfer
NeueArbeit
VideoBridge
VillageInnovationTalk


AlleOrdner
AlleSeiten
Hilfe

Einstellungen

SeiteÄndern







Philosophie und Informatik - Eine Debatte

02.11. 15 Uhr in der Johannisgasse 26, Raum 1-22

Ankündigung

Der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß hat sich in der FAZ vom 25.7.2011 sehr kritisch zu Fragen des "digitalen Wandels" geäußert. Seine drei zentralen Thesen

  • These 1: Die moderne Welt ist das Produkt des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes. Ihre artifiziellen Strukturen nehmen zu, ihre natürlichen Strukturen nehmen ab. Sie ist eine Leonardo-Welt, die auf die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft, Forschung und Entwicklung angewiesen ist und bleibt.
  • These 2: Eine über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausreichende Bildung war noch nie so unentbehrlich wie in einer Gesellschaft, die sich nicht nur als offene, sondern auch als beschleunigte Gesellschaft versteht und zu deren Credo permanente Innovation, schrankenlose Mobilität und chamäleongleiche Flexibilität gehören. Ohne Bildungselemente geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde.
  • These 3: In einer Internetgesellschaft herrschen absolute Gegenwart und organisierte Gleichzeitigkeit; das Ferne und das Fremde lösen sich im Gegenwärtigen auf – um den Preis der Erfahrung und des Privaten.
werden dort näher begründet.

Diese Überlegungen sollen diskutiert werden.

Basistext:

Weitere Texte: Hans-Gert Gräbe, 23.10.2011

Anmerkungen zur Diskussion

Ich möchte im Folgenden einige Gedanken und Argumentationen unserer Diskussion im kleinen Kreis ohne Anspruch auf Vollständigkeit rekapitulieren und damit öffentlich zugänglich machen. Die Thesen und insbesondere die Begründungen derselben wurden insgesamt sehr kritisch aufgenommen und als zu einseitig betrachtet. Sie artikulieren zwar gewisse ernst zu nehmende Ängste und Befürchtungen, es fehlt ihnen aber an der für eine klare Handlungsgrundlage erforderlichen Ausgewogenheit der Betrachtung.

Offensichtlich gilt in diesem Bereich dasselbe, was wir auch schon in anderen Diskussionen festgestellt haben. Es gibt zwei gesellschaftlich klar auszumachende wesentlich verschiedene Erfahrungshorizonte, die sich in ihren Einschätzungen und Argumentationsmustern deutlich unterscheiden - einmal Personen, die enger mit den technischen Entwicklungen verbunden sind und über eigene differenzierte Erfahrungen im Einsatz der neuen Technologien verfügen, und andererseits Personen, die über wenig solche Erfahrungen verfügen und sich ihr Bild der "neuen Welt" weitgehend nach der "öffentlichen Meinung" erstellen.

Zu letzteren gehört insbesondere ein großer Teil der Politiker, wie wir im Seminar im letzten Jahr an Hand der Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestags ausmachen konnten und im Detail an Argumentationslinien und Schwerpunktsetzungen zu einzelnen Themen nachvollzogen haben. Mittelstraß argumentiert sicher deutlich differenzierter, dennoch ist seine geringe eigene praktische Erfahrung mit diesen neuen Technologien permanent zu spüren.

Dies beginnt bereits mit der Entgegensetzung artifizieller und natürlicher Strukturen. Wir leben seit mehreren tausend Jahren in einer sich immer weiter entfaltenden Kulturlandschaft, in deren Entfaltung sich viele Komponenten gegenseitig bedingen. Eine Interpretation der These 1 als ein "Zurück zur Natur" verbietet sich von selbst, denn es ist realitätsfremd, eine Entfaltung von "Kultur" im Sinne der Beeinflussung der Umwelt hin zu besseren Lebensbedingungen als anthropologisches Spezifikum zu sehen. Solche "Kultur" ist vielfach in der "Natur" selbst zu beobachten, insbesondere bei staatenbildenen Lebensformen wie Ameisen oder Bienen, so dass man von Entwicklung hin zu mehr Kultur als einem "natürlichen Entwicklungsprinzip" sprechen kann.

In dieser Kulturlandschaft primär eine "Leonardo-Welt" zu erblicken zeigt eine sehr dingliche Sicht auf Welt als Anhäufung von technischen Artefakten, ohne die dahinter liegenden kausalen und logischen Bindungen zwischen diesen Einzelteilen oder gar deren reproduktiven Dimensionen ausreichend zur Kenntnis zu nehmen. Die "Leonardo-Welt" ist eine Welt der Dinge, die nicht ausreichend in ihrer Genese wahrgenommen wird. Es ist die von H.-P. Dürr immer wieder kritisierte alte Weltsicht, in der "was ist?" gefragt wird und nicht "was bindet?" Es ist allerdings in der Tat ein Problem heutiger Politik, dass sie weitgehend in "altem Denken" gefangen ist und damit ihre Steuerungskraft ganz erheblich eingebüßt hat. Das wird nicht nur in der aktuellen Finanzkrise deutlich.

Ob bzw. inwieweit die "moderne Welt" in diesem Sinne "das Produkt des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes" ist, muss - gerade auch angesichts des Schicksals realsozialistischer Vorstellungen von konstruierter Gesellschaft - ganz entschieden hinterfragt werden. Hier wie auch in These 2 kommt ein Verständnis von "Verstand" zum Ausdruck, das nahe an den Vorstellungen eines Sarastro und dessen elitärem Verständnis der Rolle der "Wissenden" liegt. Welche Gründe soll es geben, eine solche Differenz zwischen "Wissenden" und "Gesellschaft" zu eröffnen? Was bedeutet die Position, "eine über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausreichende Bildung sei noch nie so unentbehrlich gewesen wie heute"? Gibt es einen Kanon dieser Bildung oder ist dies schlicht ein Appell, sich über sein "Kerngeschäft" (Beruf?) hinaus gesellschaftlich zu interessieren und zu engagieren? Was ist in dem Zusammenhang eine "offene", was eine "beschleunigte" Gesellschaft? Welche Kohärenzphänomene und -prozesse geben überhaupt Anlass, hier über Momente einer Homogenität zu sprechen? Ist nicht gerade die über Jahrhunderte wachsende Bedeutung der "Menschenrechte" ein Indiz dafür, dass es in längerer Perspektive kein "Außen" mehr für die "Wissenden" geben wird, dass jeder Mensch allein wegen seiner spezifischen Erfahrungen und Kenntnisse ein wertvolles und unterstützenswertes Mitglied der Menschengemeinschaft ist?

Eines allerdings wird dabei deutlich - das Verhältnis zwischen Politik und den Wissenden ist im Umbruch und in der Krise. Die Reproduktion spezifischer Machtpositionen im Spannungsfeld zwischen "Wissenden" und "Unwissenden", die lange in der Korrumpierung der wenigen "Wissenden" durch die Herrschenden eine stabile Grundlage hatte, ist gerade auch mit den neuen kommunikativen Möglichkeiten der "digitalen Welt" in die Krise geraten und möglicherweise in Auflösung begriffen. "Ohne Bildungselemente geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde" bringt die Angst vor einer solchen Auflösung zum Ausdruck, die eigentlich eine - vielleicht sogar die einzige - Chance der Menschheit ist, gangbare Wege in die Zukunft zu finden.

Hans-Gert Gräbe, 5.11.2011


OrdnerVeranstaltungen