Ort: Research Academy Leipzig, Wächterstraße 30, 04107 Leipzig
Mit diesem interdisziplinären akademischen Gespräch wird die im Herbst 2011 begonnene Reihe akademischer Reflexionen über die Umbrüche unserer Zeit fortgeführt.
Reinhard Höllerer: Dissertation "Modellierung und Optimierung von Bürgerdiensten am Beispiel der Stadt Landshut" am HPI der Uni Potsdam, 2016.
Hans-Gert Gräbe: Auszüge aus dem Gutachten zur Dissertation Höllerer.
Reinhard Höllerer: Folien der Disputation zur Verteidigung der Dissertation
Impulsreferate:
Dr.-Ing. Reinhard Höllerer (Leiter der EDV-Abteilung der Stadtverwaltung Landshut): Verwaltung 4.0: Wege und Irrwege. Kritische Empfehlungen aus der Praxis. ( Folien)
Die umfassende Informatisierung von Verwaltungsprozessen sowohl in Unternehmen als auch in öffentlichen Einrichtungen hatten wir bereits in unserem 9. Interdisziplinären Gespräch thematisiert, damals aus einer eher theoretischen Perspektive. Die praktischen Potenziale, aber auch Schwierigkeiten, sich auf eine solche Open Government Strategie zu verständigen und diese umzusetzen, sind in Leipzig gut bekannt. So diskutierte Leipzigs Verwaltungsbürgermeister Ulrich Hörning am 15. März 2018 auf einem Open Data Workshop über das "Konzept Moderne Verwaltung für die wachsende Stadt Leipzig" und dessen integralen Bestandteil "Digitalisierung der Verwaltung" mit anwesenden Experten aus ganz Sachsen. Bereits Ende 2017 hatte er angekündigt
"Das Bereitstellen frei verfügbarer Daten ist eine Grundlage für soziale Innovation und lokale Demokratie. Deshalb möchte die Stadt Leipzig besonders im Jahr der Demokratie 2018 ihr Datenangebot in enger Zusammenarbeit mit den Nutzern kontinuierlich erweitern. Neben beispielsweise Start-Ups oder wissenschaftlichen Einrichtungen können auch Journalisten die Daten für ihre Recherchen nutzen." ( Quelle)
Diese Diskussion der Potenziale und Hürden einer Digitalisierung von Verwaltungsprozessen wollen wir in unserem Interdisziplinären Gespräch fortsetzen und haben dazu mit Dr.-Ing. Reinhard Höllerer als Leiter der EDV-Abteilung der Stadt Landshut einen profunden Praktiker und Theoretiker als Diskussionspartner gewinnen können. Dr. Höllerer ist nicht nur langjährig in die kooperativen Prozesse der praktischen Ausgestaltung kommunaler digitaler Infrastrukturen involviert, sondern hat mit seiner Dissertation am HPI im Jahr 2016 diese Erfahrungen auch mit theoretischen Erkenntnissen der Modellierung entsprechender Prozesse zusammengeführt.
Der umfassenden Bedeutung von Digitalisierungsprozessen will die Stadt Leipzig auch mit einem Referat "Digitale Stadt" begegnen, das im Dezernat Wirtschaft und Arbeit eingerichtet werden soll. Dr. Michael Schimansky, Kommissarischer Leiter des Dezernates, führt dazu aus: "Zusammen mit Initiativen wie dem Smart Infrastructure Hub bringt das Referat Digitale Stadt den Digitalstandort Leipzig weiter voran. Damit fördern wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Stadt." ( Quelle). Möglicherweise sind diese beiden Digitalisierungsherausforderungen – der öffentlichen und der privatwirtschaftlichen Verwaltung – aber zwei Seiten derselben Medaille. Dieser Frage soll mit einem weiteren Impulsbeitrag "Enterprise Data Management" nachgegangen werden.
Hans-Gert Gräbe, 14.12.2018
Anmerkungen
In seinem Impulsbeitrag ging Reinhard Höllerer zentral auf die Verheißungen der 4.0-Welle ein, die als "Digitalisierungs-Tsunami" über uns gekommen sei. Das mit dem Tsunami ist eine möglicherweise unglückliche Metapher, denn auch bei der rezenten hektischen Betriebsamkeit landauf und landab um "Digitalisierungsstrategien" der "zu spät Gekommenen" (wer erinnert sich da nicht an die vor 30 Jahren ausgesprochenen mahnenden Worte an die DDR-Führung) gilt sicher, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht scheint.
Ein wesentlicher Unterschied von Digitalisierungsprojekten in Unternehmen und Verwaltungen sei es, so Höllerer, dass in ersteren Dinge produziert würden, in zweiteren aber Menschen mit ihren Anliegen im Mittelpunkt stünden. Hier haben wir es möglicherweise mit einem Ebenenproblem zu tun, denn auch die Produkte von Unternehmen orientieren sich in letzter Instanz an menschlichen Bedürfnissen. Allerdings – und darauf wies Sebastian Tramp in seinem späteren Impulsbeitrag hin – ist der Verflechtungsgrad autonomer Produzenten in der Privatwirtschaft deutlich höher, und gerade im B2B-Bereich des Supply Chain Managements sowohl in seiner Veracity (ein schillerndes Wort, das schwer ins Deutsche zu übersetzen ist) als auch den logistischen Herausforderungen spielen neue, digital unterstützte Technologien ihre Stärken aus. Diese Herausforderungen, so Tramp, seien in den Digitalisierungsprojekten des Verwaltungshandelns noch gar nicht auf dem Schirm.
Verwaltung, so Höllerer, ringt noch immer damit, die große Menge der Insellösungen aus den Zeiten des Web 1.0 enger miteinander zu vernetzen. Die Verweisstrukturen des Web 1.0 erlaubten es den einzelnen Fachverfahren, aufeinander zu verweisen, ohne die Datenschichten enger aneinander koppeln zu müssen. Diese Fragen rücken erst mit dem Web 2.0 und insbesondere mit den semantischen Technologien des Web 3.0 in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Die Integrationsherausforderungen heterogener Datenlandschaften im Web 2.0 lassen sich, so Höllerer, nur sinnvoll angehen, wenn zunächst die Organisationsprozesse geklärt werden, ehe über die technische Realisierung digitaler Unterstützung nachgedacht wird – eine Forderung, die bereits vor 50 Jahren von Klaus Fuchs-Kittowski in seinem Konzept "Hardware, Software, Orgware" vertreten und produktiv gemacht wurde. Die aus der Industrie bekannten klassischen Vorgehensweisen und Ermöglichungsbedingungen (Pilotprojekte, Betroffene mitnehmen, Arbeit mit Early Adopters, klare Unterstützung durch das strategische Management, Beachtung von Zeithorizonten) – festgehalten etwa in den Erfahrungen mit Reifegradmodellen wie CMMI – spielen auch in der Digitalisierung von Verwaltungsprozessen eine wichtige Rolle.
Eine solche Prozessorientierung erlaubt die Vernetzung der Fachverfahren, ohne zwingend schon zu einem gemeinsamen Organisationsverständnis kommen zu müssen. Digitalisierungstechnisch sind hier heute zwei Ansätze verbreitet – Vernetzung durch Microservices in "flachen Hierarchien" und Schichtenarchitekturen. Allerdings ist das keine Dichotomie, sondern eher ein Kontinuum von Ansätzen mit variierenden Schwerpunktsetzungen. In der Diskussion wies Höllerer kurz auf seinen Ansatz eines 7-Schichtenmodells für Bürgerservices hin, der in seiner Dissertation genauer ausgearbeitet ist. Eine solche Strukturierung zunächst der Orgware-Seite lässt sich durch entsprechende ePK-Semantiken genauer modellieren und bis hin zu digitalen Unterstützungen verfeinern. Der Ebenenansatz gewährleistet, dass einzelne Ebenen remodelliert und durch andere technische Ansätze ersetzt werden können, ohne das gesamte Gebäude zum Einsturz zu bringen.
Ken Kleemann extrahierte aus der Diskussion die Problematik, dass eine solche Prozessorientierung selbst prozessualisiert werden müsse, da Verwaltung nicht als statisches Gebilde betrachtet werden kann, sondern mit stets neuen Herausforderungen auch in einen Entwicklungsprozess eingespannt sei. Dies trifft sich mit Tramps Bemerkung, dass es nicht ausreiche, die Datenbasen der Fachprozesse gegenseitig zu öffnen, sondern ein umfassendes gemeinsames Verständnis über das dort enthaltene Hintergrundwissen auf Metaebene hergestellt werden müsse. Interoperabilität von Datenbeständen ohne ein solches gemeinsames Verständnis behebt die Medienbrüche erster Stufe, lässt sie aber auf der zweiten, der semantischen Stufe neu auferstehen.
In der Schlussrunde ging es schließlich um den Vergleich, wie sich die Stadtverwaltungen von Landshut (Dr. Höllerer), von Leipzig (Dr. Ginzel) und Gera (Herr Müller) vor diesen Herausforderungen aufstellen. Gerade in Leipzig ist mit dem im Aufbau befindlichen Referat "Digitale Stadt" viel in Bewegung, wobei die Erfahrungen aus dem Smart City Projekt sowie das Vorhaben des Aufbaus einer urbanen Datenplattform, "auf der Geodaten der Stadt Leipzig und der Leipziger Beteiligungsunternehmen zur gemeinsamen Nutzung zur Verfügung gestellt werden" (ebenda), die Richtung bestimmen, wie Frau Dr. Ginzel betonte.