Hans Gert Graebe / Leipziger Gespraeche / 2018-02-02 |
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Die Reihe der Interdisziplinären Gespräche am Institut für Informatik wird unterstützt vom Institut für angewandte Informatik (InfAI), von LIFIS - Leibniz-Institut für Interdisziplinäre Studien, dem MINT-Netzwerk Leipzig sowie der Research Academy Leipzig. Links:
Mit dem digitalen Wandel sind wir Zeuge einer zweiten rechen-technischen Revolution – nach der Erfindung und technischen Realisierung des Computers als zentraler Recheneinheit, Turingmaschine und von-Neumann-Architektur steht nun der Auf- und Ausbau einer dezentralen vernetzten Infrastruktur aus "autonomen Agenten" mit lokalem "Gedächtnis" und Compute-Power auf der Tagesordnung. Eine solche dezentrale Struktur, die alle unsere Lebensbereiche durchdringt, ändert auch unsere Sichtweise der Welt und damit unsere Praxen – von einer stärker statisch geprägten Sicht auf Produkte und Artefakte hin zu einer stärker dynamisch geprägten Sicht auf Prozesse und Entwicklung. Im Softwarebereich sind diese Tendenzen gut zu beobachten – Abkehr von statischen Entwicklungsmodellen wie dem Wasserfallmodell und seinen verschiedenen Spielarten hin zu evolutionären und nun auch agilen Modellansätzen ( Scrum), Software als Prozess statt Produkt, Komponentenansätze, Produktlinienansätze usw. Die nachhaltige Etablierung entsprechender dezentraler Produktionsmodelle wirft vor allem die Frage nach Beschreibungsformen und damit der Entwicklung von Begriffswelten auf, mit denen und in denen die synergetischen, aber auch widerstreitenden Potenziale der Herstellung und Reproduktion entsprechender Infrastrukturen und kooperativen Handlungsformen erfasst werden können. Dabei stehen sich traditionell zwei Reflexionswelten gegenüber – die Welt der ihr eigenes Tun reflektierenden "Macher" und die komplex-kulturell konnotierte Welt der "Denker". Die Vorbehalte gegenüber der je anderen Seite sind groß. Ob denn ihre Vorstellungen nicht deutlich unterkomplex seien, fragen die "Denker" die "Macher". Diese fragen zurück, ob die Weisheiten der "Denker" nicht einer längst vergangenen Zeit entsprüngen und die neuen Praxen mangels eigener Erfahrungen mit ihnen nur unzureichend berücksichtigten. Siehe dazu exemplarisch (Gräbe 2012). Nach einer Diskussion um "das schwierige dialektische Verhältnis zwischen Kooperation und Konkurrenz" um 2005 herum spielt in jüngster Zeit der Begriff technisches Ökosystem eine zunehmend wichtige Rolle. Diese Diskussionen wollen wir mit unserem Interdisziplinären Gespräch aufgreifen. In ihnen hat der Begriff des Ökosystems eine überraschende inhaltliche Erweiterung erfahren – man spricht heute nicht mehr nur von biologischen Ökosystemen, sondern auch von technischen Ökosystemen verschiedener Provenienz: Software-Ökosysteme, digitalen Ökosystemen, Wissens-Ökosystemen, Energie-Ökosysteme sowie regionale Stoff- und Energiekreisläufe, welche die Reproduktion technischer Infrastrukturen in verschiedenen Modellregionen begleiten. Viktor W. Hwang fragt bereits im April 2014 im Forbes-Magazin, ob wir es mit dem "Next Big Business Buzzword: Ecosystem" zu tun haben. Der älteste Ansatz in dieser Richtung und konzeptionelle Prototyp sind wahrscheinlich die Software-Ökosysteme, über die Wikipedia folgendes schreibt:
Im Vorwort der Proceedings der EEC 2013 in Leipzig
Mit unserem Interdisziplinären Gespräch wollen wir diesen Entwicklungen nachspüren. Wir haben dazu einige Impulsbeiträge vorbereitet, um der Diskussion einen Rahmen zu geben. Der Schwerpunkt liegt aber wie immer auf dem interdisziplinären akademischen Gespräch und Austausch, für das genügend Raum vorhanden sein wird. Weitere Links:
Größere Diskussionen gab es vor allem um die Verwendung der Begriffe Nachhaltigkeit und Ökosystem im technischen Kontext. Klassische Definitionen beider Begriffe gehen – auf verschiedenen Abstraktionsebenen – von einem "Naturzustand" als Etalon aus, an dem sich menschliches Handeln orientieren müsse, das in Natur eingreifend agiert. Ein solcher begrifflicher Bezug ist allerdings selbst im klassischen Kontext unter zwei Aspekten problematisch:
Dabei ist allerdings eine Differenz in den Diskursen zu beachten: Während die Debatte um "technische Ökosysteme" vor allem von den Praktikern selbst geführt wird und damit die Innenperspektive der Reflexion eigenen praktischen Tuns einnimmt, steht in der "Ökodebatte" mehr die Außenperspektive, der Blick auf sich verändernde "natürliche" Verhältnisse, im Vordergrund. In einem systemtheoretischen Ansatz – als Ansatz dynamischer Systeme mit Mikro- und Makroevolution – ist ein gutes Verständnis der Interaktion von Mikro- und Makroperspektive erforderlich, um komplexe Dynamiken besser zu verstehen. "Technische Ökosysteme" lassen sich aus einer solchen interaktiven Perspektive nicht auf technische Systeme reduzieren, sondern müssen als techno-soziale Systeme betrachtet werden, wie dies von jedem einigermaßen tragfähigen Technikbegriff zu fordern ist. Es genügt auch nicht, derartige techno-soziale Systeme allein aus der Innenperspektive sich in marktwirtschaftlichen Kontexten bewährter Praxen zu betrachten, um die Konsequenzen der tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu erfassen, die als "digitaler Wandel" heute vor sich gehen. Insbesondere werden Ansätze, die technische Ökosysteme allein als "Multiagentensysteme" betrachten, einer solchen Komplexität nicht gerecht und wiederholen Fehler der Debatte um "künstliche Intelligenz" – die konzeptionelle Verdrängung des Menschen aus den technischen Systeme, die eigentlich die eigenen körperlichen Fähigkeiten verlängern sollen. Allerdings geht es dabei schon lange nicht mehr (nur) um die körperlichen Fähigkeiten vereinzelter Individuen, sondern um emergente Fähigkeiten kooperativ vielfältig vernetzter anthropozentrischer Strukturen. Klaus Fuchs-Kittowskis bereits vor fünfzig Jahren ausgesprochene Warnung "Wider die Doktrin der Identifizierung von Automat und Mensch"
Hans-Gert Gräbe, 20.02.2018
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