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Hans Gert Graebe / Leipziger Gespraeche /
2012-01-19


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Autoren und Wissenswelten im digitalen Wandel.

Termin: Donnerstag, 19.01.2012, 18.00 Uhr

Ort: Café des Hauses der Demokratie, Bernhard-Göring-Straße 152, 04277 Leipzig.

Mit Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig und außerplanmäßiger Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig

Moderation: Hans-Gert Gräbe

Ankündigung

Bereits am 07.12.2011 hatte U.J.Schneider im Philosophischen Kolloquium im neuen Senatssaal der Uni Leipzig unter dem provokanten Titel "Ordnen und Verorten. Wir bewegen uns in der Wissenswelt von gestern" einige Gedanken zu Autoren und Wissenswelten vorgetragen, die zu Widerspruch Anlass gaben. Ich kleidete meine, den Praxen eines Informatikers entspringenden Irritationen in die Frage, ob Schneider denn nun über die Rolle von Autoren in Wissenswelten vorgetragen habe oder aber über Wissenswelten, in denen Autoren eine dominante Rolle spielen. Dass im Vor-Gutenberg (mit einem 't') Zeitalter andere Wissenswelten (mit Erzählern in der Hauptrolle) dominierten, scheint klar, aber wie ist es heute, im Nach-Gutenberg (?) Zeitalter?

Bereits am 07.12. wurde gewisse Evidenz sichtbar, dass Schneiders Blick im Vortrag doch etwas verengt auf die Diskurstraditionen in den Geisteswissenschaften gerichtet war, neue (?) Formen des Umgangs mit kollektiver Autorenschaft in den Naturwissenschaften (Bourbaki) längst zu beobachten sind, die mit den "Wissensproduktionsprozessen" einer Wikipedia oder einer Open Source Community eher mehr als weniger Gewicht erhalten. Das Newtonsche Prinzip des "Stehens auf den Schultern von Riesen" gerät heute immer mehr in einen prozesssierenden Widerspruch zu den, ebenfalls vehement vorgetragenen, Besitzstandsambitionen von Autoren und deren Verwertern, so Eben Moglen in seinem dot communist manifesto [1] aus dem Jahre 2003. "Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit wird auf CD-Roms, auf Internet-Seiten, in Antiquariaten und im Buchhandel dargeboten, alles ist gut vernetzt und so leicht zugänglich, daß es eine Schande wäre, dieses Material nicht wach und offenen Sinnes zu gebrauchen. Denn, um noch einmal den klugen Bacon zu zitieren: Wissen ist Macht.", so Matthias Käther [2]. Auch in der "Geschichte vom kleinen Philosophen" [3] wird der digitale Wandel in der Welt der Autoren, Redakteure und Herausgeber thematisiert.

Leider konnten all diese Fragen in der zeitlich arg beschränkten Diskussion am 07.12. nur in höflicher Form angerissen, in keiner Weise aber vertieft werden. Dies soll nun am 19.01. nachgeholt werden, denn U.J.Schneider ist als Direktor der Leipziger Universitätsbibliothek mit den Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Formen der Wissensdiskurse und Wissensweitergabe sehr unmittelbar konfrontiert und hat sicher - nicht nur mit Blick auf das wenig explizierte "von gestern" im Titel jenes Vortrags - manche weitere Erfahrung zur Diskussion beizusteuern.

Hans-Gert Gräbe, 16.01.2012

Nachbetrachtungen

Zu Autoren stellte der Referent zwei Thesen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen:

  1. Autoren gab es schon immer, ihre Bedeutung ist in der heutigen, medial hochgradig aufgeladenen Zeit aber vielleicht überhöht, ähnlich der der Künstler.
  2. Unser Kultursystem hat Referenzsysteme aufgebaut, die Autoren brauchen. Ohne Autoren und Zuschreibungen von Texten zu diesen würde dieses ganze Referenzsystem nicht funktionieren.
Das bekannte Steckenpferd des Referenten - die Enzyklopädien und die Enzyklopädisten - ließ erwarten, dass diesmal auch autorenferne Aspekte von Wissenswelten eine größere Rolle spielen werden, und so war es auch. An dieser Stelle entzündete sich dann auch der Streit in der Debatte - welche eigenständige Bedeutung hat das Zusammentragen und Systematisieren, allgemeiner das Aufbereiten eigentlich bereits bekannten Wissens in unseren Wissenswelten? Ist eine Enzyklopädie, ist Wikipedia ein akademisches Projekt? Ich ergänze um die Frage: War Adam Riesens "Coß" ein akademisches Projekt?

Damit wird auch der andere Pol des kulturellen Referenzsystems sichtbar, der vollkommen ohne den Begriff des Autors auskommt - die überlieferten Texte, die in ihrer Gesamtheit einen großen Textkorpus darstellen, aus dem man sich für die eigenen Zwecke mehr oder weniger beliebig bedienen kann, in einer Bibliothek allemal. Auch hier weiß der Direktor der Universitätsbibliothek als "Herr der Texte" über signifikante Änderungen im Zuge des digitalen Wandels zu berichten - während die klassischen Katalogisierungsprinzipien der Bibliotheken alphabetische Ordnungen über Autoren und vielleicht noch Schlagworte bieten und damit dem Autorenprinzip als Ordnungsprinzip folgen und dieses befördern, ermöglichen heute Volltextsuchen über digitalisierte Textbestände etwa bei Google vollkommen andere Zugriffe auf Wissensbestände, in denen die Textstelle im Vordergrund steht und die Ermittlung des zugehörigen Autors, wenn überhaupt möglich und erforderlich, zweitrangig und aufwändig ist. Die Bezüglichkeit von Texten aufeinander, die durch das Medium Hypertext noch unterstützt wird, rückt gegenüber einem abgrenzbaren "Content" eines "Autorenwerks" wieder stärker in den Vordergrund, der die Bezüge herstellende "Wissende" (Mittelstrass) in den Hintergrund.

Enzyklopädien und andere systematisierende Werke stehen im Schnittpunkt dieser beiden gegenläufigen Tendenzen. Die große Tradition und Bedeutung derartiger Werke legt die Frage nahe, ob ein solches Systematisieren wirklich so gering zu schätzen ist, wie gewöhnlich im Kontext eines "weiter, höher, schneller" unserer heutigen Zeit zu beobachten. Wo doch gerade in der akademischen Welt das neue Forschungsergebnis viel, gute Lehre dagegen wenig zählt. Ist der Wechsel vom Erzähler, der zentralen Figur einer oralen Wissenswelt des Vor-Gutenberg-Zeitalters, zum Autor als (scheinbar?) zentraler Figur heutiger Wissensreproduktionsprozesse wirklich so restlos vollzogen? Was ist der "vermarktbare Content" wert ohne den direkten Kontakt zur Aura des Hochschullehrers als modernem "Erzähler", der diesen "Content" entwickelt hat und zur Präsentation bringt? Lassen sich Wissensvermittlungsprozesse (von - selbstredend - "bekanntem" Wissen) der zwischenmenschlichen sozialen Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, oder - in mehr partizipativ gestalteten Szenarien - von gemeinsam Lernenden, ohne Substanzverlust entkleiden? Wer sind aber die Autoren des in solchen kooperativen kreativen Verhältnissen entstehenden Wissens?

Um sich den Inhalt eines Buches anzueignen, muss man es nicht nur kaufen - Aneignung als Eigentumsakt -, sondern auch lesen - Aneignung als Wissensakt. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sie im Zuge der Kommerzialisierung von Wissen den eigentümlichen Aneignungsakt sehr prominent in den Vordergrund und den wissensmäßigen Aneignungsakt in den Schatten stellt? Wie funktioniert Wissenschaft in einer Gesellschaft, wo nicht mit Eifer am großen Puzzle gearbeitet wird, sondern alle Beteiligten zunächst mit Pokerface um den Tisch sitzen und um die Puzzlestücke selbst schachern? Derartige Ansätze, denen sich Wissenschaft in ihren Kernbereichen bisher erfolgreich widersetzen konnte, haben in anderen "Wissenswelten", namentlich denen der digitalen Musik und der digitalen Bilder, bereits an Fahrt aufgenommen und führen zu harten rechtlichen Auseinandersetzungen über die Bedingungen des Zugangs zu den kulturellen Schätzen der Menschheit. Wer kann es sich heute noch leisten, eine Variation auf ein Thema eines modernen Bach zu schreiben, ohne morgen Post vom Anwalt zu riskieren?

Die zuletzt gestellten Fragen kamen an diesem Abend nicht auf den Tisch, auch nicht die u.a. mit Wikipedia intendierten Gegentendenzen hin einer digitalen Gesellschaft, in der ein freier - also freizügiger - Zugang zu den kulturellen Ressourcen der Menschheit das zentrale konstituierende Element ist. Das wäre ein neues Thema und zugleich das Unabgegoltene in der Debatte dieses Abends - die Literaturverweise [1-3] eingeschlossen.

Hans-Gert Gräbe, 22.01.2012


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