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Glocalizing Oder Die Neue Mitte Des Lebensraums


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Beitrag zur CORP 2003

Franz Nahrada

Noch vor 10 Jahren konnte auf einem Kongreß über ökologische Stadtentwicklung noch ernsthaft über die Frage diskutiert werden, was denn die Optimalgröße eines städtischen Gebildes sei, ob es sich in einer Großstadt oder Mittelstadt besser lebe und so weiter – schlicht: wo sich der Mensch wohlfühlt.. Solche Diskurse sind in der hektischen digitalen Goldgräberzeit in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre zurückgedrängt worden zugunsten von Fragen wie der nach der “Fähigkeit eines Standorts, auf ein beliebiges technisches Supportproblem innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine Lösung zu finden”.

Das Leitziel der “Städtekonkurrenz” hat dazu geführt, daß mit immensem Ressourcenaufwand die Unterschiede und Individualitäten der Städte weltweit zum Verschwinden gebracht werden, während periphere Räume zunehmend aus den Wirtschaftskreisläufen herausfielen. Die Wachstumshoffnungen blieben weitgehend unerfüllt, die Schulden steigen, der Boom ist die Mutter einer umso tieferen Krise.

Das von ChristianEigner treffend diagnostizierte Ende des Internet – Spekulationswahns ( Wenn Wirtschaft auf den Raum vergisst) könnte uns vielleicht die richtigen Fragen stellen lassen, zum Beispiel die, ob nicht eine der Lebensqualität und Nachhaltigkeit verpflichtete Stadt- und Regionalentwicklung letztlich ertragreicher ist als die Wachstums-Stampede mit anschließendem Katzenjammer. Und doch bedeutet Nachhaltigkeit und Lebensqualität in einer Zeit der technischen und kulturellen Globalisierung die Hereinname völlig neuer Elemente, das Entstehen völlig neuer Raumbilder.

Wir haben noch immer kein Bild des Wirtschaftens gewonnen, das eine Alternative zu dem darstellt, was Eigner die “raumvergessene Flächenwirtschaft” nennt. Wir wissen oder wir ahnen aber, daß es kein Zurück gibt zu Träumen und Programmen von nationalen abgeschotteten Wirtschaftsräumen, und wir fühlen die Paradoxie, daß die Logos und Produkte der globalen “Player” immer noch den Geschmack der Freiheit mit sich tragen, obwohl sie uns eigentlich ärmer gemacht haben.

Wiewohl der Cyberspace der neuen Medien sein ungeheures und rasantes Wachstum den Spielen von globaler Kontrolle und Marktmacht, von immer prekärer werdenden Aufstiegen und Abstiegen, Fluten, Ungleichgewichten und Vakua im globalen Konkurrenzkampf verdankt, so ist doch seine Realität vielleicht der Theorie entglitten und hat hier und da schon zu einer neuen Lebendigkeit und Dichte lokalen Lebens beigetragen, zu einer zumindest partiellen Resistenz gegen die Prognosen von dualen Städten und hoffnungslosen Ghettos.

Diese Verdichtung, so ist meine Behauptung, trägt in sich die Keime einer neuen Realität, die in einen zunehmenden Wettbewerb mit den alten Flächenphantasien tritt und der Bemühung um eine Restitution des Lokalen eine solide materielle Basis gibt. Nicht nur das, diese neue Realität der Orte entfaltet eine innere Logik, die sich selbst immer weiter zu verstärken imstande ist. Sie entfaltet sich auf der Grundlage der Globaliserung, sie ist wesensmäßig mit ihr verbunden – und doch wird hier eine vollkommen neue Geschichte erzählt, eine subversive Geschichte des Lokalen.

Es ist zweifellos eine richtige Beobachtung, daß das Funktionsgefüge dessen, was wir als Stadt kennen, als lokalen zentralen Ort, als Verwaltungszentrum, Industriezentrum, Bildungszentrum, als Hauptstadt und so weiter, durch die Logik von Globalisierung und Technologie seltsam unwirklich geworden ist – und gleichzeitig hat die Stadt als bevorzugter Lebensraum der Zukunft überlebt. Der Schweizer Autor P.M. formuliert diese Beobachtung so:

Zur Lösung unserer Alltagsprobleme oder als ökonomischen Werkplatz brauchen wir die Stadt nicht mehr. Dazu genügen global geschickt verteilte funktionale Zonen, ein Auto, etwas Telekommunikation. Die Städte, die wir heute noch antreffen, sind als Ansammlung von Gebäuden übriggeblieben aus verschiedenen Epochen wirtschaftlicher Zentralisation und Dezentralisation. Sie waren Marktstädte, Handwerkerstädte, Festungen, Wohnstätten, Industriestädte, Dienstleistungsstädte - heute sind sie all dies noch, aber nur zufällig. Shoppingcenters, ausgelagerte Industrien, gesunde Gartensiedlungen, Backoffices in der Agglomeration usw. haben der Stadt jede wirtschaftliche Notwendigkeit genommen, leisten alles besser, billiger und rationeller. Die Stadt steht wieder zur Disposition, diesmal als Projekt, als post-ökonomischer Lebensvorschlag, als soziales Experimentierfeld. Die Wirtschaft, die ohne Stadt auskommt, ist heute sichtbar in Krise und kann sowohl mit als auch ohne Stadt jederzeit zusammenbrechen. Diese - durchaus gute - Botschaft kann bedeuten, dass das beste "Leben danach" in der Dichte der Stadt am ehesten eine Chance hat. (P.M., NaQuaS?, /Nachbarschaft?, Quartier, Stadtteil) – die Metropole an der Limmat, Zürich 1997, elektronisches Manuskript)

Die Wirtschaft, die da ohne Stadt auskommen soll, ist wie jedem von uns bekannt ist, der Motor einer ungeheuren Ballungslogik. Sie bevorzugt die Ballung von Konsumenten, die Ballung von Arbeitskräften, die Ballung von Zulieferern und nicht zuletzt auch die Ballung von Macht. Sie setzt sich preiswert an der Rand der Städte (wie der Ameisenbär vor den Ameisenhaufen), sie durchzieht die Städte mit einem Netzwerk von Filialen, Einkaufszentren und Urban Entertainment Centers, verstärkt florierende Zonen, flieht aus einkommensschwachen Stadtteilen und verändert so die Geographie der Stadt gründlich. Zuerst tendiert der Erholungsort und dann der Wohnort an die Peripherie, schließlich folgen die Versorgung und die Produktion. Traditionelle Zentren werden zu touristischen Staffagen und zu exklusiven Zonen der Repräsentation. Die Stadt dehnt sich so unaufhörlich aus, wird zur Agglomeration. Mobilität ersetzt Nahversorgung und erhöht unaufhörlich den Streß auf das städtische System und seiner Bewohner; der tägliche Stau auf der Stadtautobahn und die Massen im Berufsverkehr, die sich vermehrenden Entfernungen in der Agglomeration, der Massenabfertigungscharakter urbaner Dienstleistungen – das alles sind Erscheinungsformen dieser Belastung, für die die Bilder vom fettleibigen Organismus, dessen Speckgürtel das urbane Arteriensystem bis zum Infarkt erschöpft, seltsam plausibel sind.

Als Gegenreaktion entsteht eine Sehnsucht, ein neues Bedürfnis, eine neue Lücke: der Traum vom urbanen Dorf, vom sicheren und selbstbestimmten Lebensraum. Für die steigende Komplexität der Lebensbewältigung, die urbane Individualisierung und Differenzierung mit sich bringt, stehen nur begrenzte Zeit- und Geldressourcen zur Verfügung. Nähe ist Reichtum, sie erspart Mobilität. Sie gibt das Gefühl, nicht ausgeliefert zu sein, nicht machtlos am Rande, sondern in der Mitte zu sein.

Genau diesem Bedürfnis kommen aber die Shopping Malls und Urban Entertainment Centers nicht entgegen. Ihre ungeheure Warensammlung und ihr unerschöpfliches und immer raffinierteres Spektakel bewirken selbst nach einer gewissen Zeit der angenehmen Sensationen urbanen Streß und füllen nicht das emotionale Vakuum, beseitigen nicht das Gefühl der Machtlosigkeit, Ausgeliefertheit und Künstlichkeit, das aus dem städtischen Vakuum entsteht. Allenfalls vermag die gekonnte Inszenierung des Raumes, die perfekte Logistik, die klimatische Barriere gegen Kälte, Nässe und Hitze uns ein Lehrbeispiel zu geben, wohin sich städtische Räume entwickeln können.

Die wachsende Stadt wird durch die Ströme der KonsumentInnen neu definiert: als mehrzelliges Lebewesen aus Subzentren, die florieren, während gleich nebenan das Leben ausdünnt oder verödet. Die Subzentren mit oder ohne Hochhäuser werden zu Anschauungsmaterial einer neuartigen Verdichtung, in denen in relativer Nähe das bisher Unerreichbare winkt: die typische Supermarkt – Modernisierung ist eine Inszenierung von Globalität, mit einem Garten aus exotischen Früchten, den beschriebenen Regalen mit Weinen aus Südafrika, Chile und Australien, ein globales Dorf ganz ohne Drähte und Bildschirme, identisch aufgebaut an 53 Standorten des oberen Segments der Kette.

Eine Ahnung kommt auf: der Mittelpunkt der Welt kann jetzt überall sein. Der Logik von Grundstückspreisen, Frequenz und Kaufkraft folgend hat sich die Flächenwirtschaft in die Gegend gesetzt und definiert Zentralität neu. Zentralität ist nicht mehr die Nähe zu einem Zentrum oder auch die Entfernung, sondern ein diffuser Prozeß mit mehreren Komponenten der Verdichtung, bei dem die neuen Medien zunehmend mitspielen.

“Das abstrakte Modell der `Boundary Cities' widmet sich dieser aktuellen Thematik. Es ist ein abstraktes Modell einwohnerbezogener Möglichkeitsfelder; Individuelle Handlungsalternativen, um urbane Infrastruktur zu erreichen. Bestellen wir ein Video per Telefon, besuchen wir eine virtuelle Filmvorstellung oder gehen wir doch `real' ins nächste Kino ? Unfähig, alle möglichen Alternativen gleichzeitig zu kennen und zu beurteilen, wählen wir heute oft zufällig oder nach Gewohnheit. Abhängig von der individuell verfügbaren Information wird die Stadt zum situativen Ambiente; einem subjektiven Möglichkeitsfeld zwischen `Information Peak' und `Information Outback'. Die Verteilung von städtebaulicher Infrastruktur verändert sich.” (Wolfgang Höhl, gaming properties Individuelle Planungskompetenz und subjektive Zentralitäten, Vortrag auf der Konferenz Computer und Raumplanung 2002, archiviert unter http://212.17.83.251/corp/archiv/papers/2002/CORP2002_Hoehl.pdf)

Die objektive Komponente dieser Entwicklung ist der Beginn einer neuen Geschichte: Die Geschichte von der unaufhörlichen Verdichtung des Raumes. Die Geschichte beginnt im Stadtteil, mitten in unserem Alltag. Sie beginnt mit der Verdichtung der globalen Logistik der Warenströme und sie beginnt mit der Verdichtung des Raumes durch Information. Es gibt tausend Facetten diese Geschichte zu erzählen und niemand weiß wann sie genau begonnen hat. Vielleicht an dem Tag als der erste Schwangerschaftstest in der Apotheke angeboten wurde und den Weg zum Spezialisten ersparte. Oder schon an dem Tag als das erste Kino aufmachte? Oder als der erste Versandhauskatalog erschien. An dem Tag an dem man begann, Dias auf Häuserwände zu projizieren? Oder an dem Tag als die erste Heizung mit Temperaturfühler installiert wurde? Egal. Information wird zunehmend in städtische Räume eingebaut, sie werden interaktiv, automatisiert, mit Information aufgeladen Und um diese verdichteten Räume zu benutzen, benötigen wir Information über Information.

Wir erleben durch diese Verdichtung die Chance, Urbanität in unsere Nähe zu bringen. Und um uns von der zunehmenden Komplexität des Stadtsystems nicht zerreißen zu lassen, kommt uns diese Nähe der Urbanität sehr gelegen – genauso wie wir in unseren Quartieren einen Rückzugraum, einen Raum der Ruhe, Sicherheit, der Streßreduktion suchen.

Ernst Gehmacher hat diese scheinbare Paradoxie unseres Wohntraumes sehr wienerisch so zusammengefaßt: “Vorne wollen die Leute am Stephansdom rausschaun, hinten soll die Terasse im Wienerwald liegen”. De-Urbanisierung und Re-Urbanisierung liegen näher beisammen als man glauben mag. Im Stadtteil gewinnt dieser doppelte Wunsch einen räumlichen Anknüpfungspunkt, einen Aktionsraum. Was als chaotisch – schicksalhafte Transformation der Städte begann, als massive Suburbanisierung und polyzentrische Randstadtentwicklung, erscheint einer Gestaltung zugänglich: einer Gestaltung urbaner Mikroräume, die eine nie gekannte Gleichzeitigkeit von Verdichtung und Rückzugsraum aufweisen. Umgekehrt lassen sich solche “Urban Pockets” auch zunehmend aus dem städtischen Raum in ländliche Regionen transportieren.

Diese Gestaltung erfordert aber, daß wir – gerade weil wir über die globalen Elemente verfügen, jeden Ort interessanter, vielseitiger, vollständiger zu machen – unsere Aufmerksamkeit dem lebendigen Boden widmen, mit dem es zusammenspielt: wir müssen das Lokale wiederentdecken, nicht einfach um seiner selbst willen, sondern um des Zusammenspiels mit den globalen Möglichkeiten.

Man kann es vielleicht so ausdrücken: man muß dem rastlosen Globalen einen Grund geben, zu verweilen, einen Halt, einen Kontrapunkt. Wer nur aus globalen Elementen lokales Leben aufbauen will, baut eine Geisterstadt. Das Globale verlangt nach dem Interessanten, Einzigartigen, Unverwechselbaren, Individuellen, Originalen – oder es flieht. In seinem Buch “etopia” schreibt William Mitchell, daß gerade durch die raumüberwindenden Technologien etwas sichtbar geworden ist, was er “the power of place” nennt. Er grenzt dieses Phänomen scharf ab von den “traditionellen lokalen Imperativen”, also den Kräften, die zum Beispiel traditionelle Stadtsysteme rein funktionell zusammengehalten haben: “Während diese traditionellen lokationellen Imperative schwächer werden, gravitieren wir zu solchen Zusammenhängen, die spezielle kulturelle, ästhetische und klimatische Vorzüge aufweisen – also genau die einzigartigen Qualitäten die nicht durch einen Draht gepumpt werden können – zusammen mit den persönlichen Begegnungen auf die wir den meisten Wert legen” (William Mitchell, etopia, MIT press London – Cambridge 1999, p.155)

In diesem Zusammenhang kommt dann auch tatsächlich der kulturellen Aura einer Stadt, eines Gebietes eine steigende Bedeutung zu.

Aber wie läßt sich dieser “lokale Faktor” verstärken, worin liegt das Geheimnis, ihn zur Geltung zu bringen? Ist er nicht in Gefahr ständig zur Beschwörung einer nicht mehr gültigen scheinhaften Tradition zu verkommen? Wer sind wir wirklich als Bewohner eines Stadtteiles? Die vielen Mittel des Zuganges zu Information, die vielen sich überlagernden subjektiven Raumbilder die aufgrund der Mobilität entstanden sind, sie alle haben die Selbstverständlichkeit der Tradition in Frage gestellt. Ständig ist vieles gleichzeitig möglich, die Menschen leben nicht mehr in Traditionen. Sie müssen jeden Tag neu entscheiden und definieren, wer sie sind. Die Menschen auch in der größten Nähe und Nachbarschaft werden uns immer fremder oder können dies von einem Moment auf den anderen werden, je nachdem in welchem globalen geistigen Dorf sie leben.. Eine Pluralität der Werthaltungen durchdringt unsere Lebenswelt. Die ungarische Philosophin Agnes Heller schreibt über diese fragmentierte Welt, in der schon die Kinder nicht mehr in der Welt ihrer Eltern leben, in der die Menschen nicht nur bei der Geburt fremd sind, sondern auch als Fremde sterben, daß wir auf sie “nur mit Angst oder mit Neugierde” reagieren können. Neugierde kann zum Kennenlernen und zum Anerkennen der anderen Lebensform und Kultur verleiten, auch zur Realisation, welche Entscheidungen und willkürliche Setzungen der eigenen Identität zugrunde liegen.

Es gilt vielleicht mehr denn je diese Neugierde in den Menschen wahrzunehmen und sie zu organisieren; denn daß sich die Angst deutlicher manifestiert, ist uns ja allen bekannt. Doch wer sich die boomende Literatur zu Esoterik und Spiritualität ansieht, der sieht in welch unglaublichem Umfang die Neugierde zugleich mit einem ihr innewohnenden kreativen Potential zugenommen hat: die Frage nach dem Grund der eigenen Existenz wird nicht mehr in schicksalhaften Traditionen ausgemacht, sie wird als eine zutiefst kreative Angelegenheit projiziert. Millionen Menschen beginnen zu glauben, daß Gott ein höchst neugieriges Wesen ist, daß sich einfach in vielen verschiedenen Formen erfahren wollte und deshalb die Welt geschaffen hat. Gott ist die offene Zukunftsprojektion unserer selbst, denn in der Erfahrung unserer Partikularität steigt ganz naturnotwendig und unabweisbar die Sehnsucht – manche würden sogar sagen die Erfahrung – unserer Einheit auf. Im Spiel der Partikularitäten manifestiert sich diese Einheit als Vorschein, nur um sich mit Begeisterung wieder ins Partikulare zu verlieren.

Praktisch gewendet, auf die Rekonstruktion des Lokalen hin, bedeutet das, daß der oberflächliche Eindruck der Fremdheit des Verschiedenen verlassen werden kann zugunsten der Vorahnung der Entfaltung eines biotopischen Reichtums unserer Lebensräume: Gerade in unserer Verschiedenheit wären wir in der Lage, Probleme besser zu lösen, mehr Granularität in unsere lokale Lebenswelt einzubringen, einzigartigere und buntere und – sofern hier ein Komparativ erlaubt ist - unwiederholbarere Spiele und Kombinationen zuwege zu bringen. Nicht in einer bestimmten Tradition oder Position liegt die lokale Identität, sondern in der gemeinsamen Intention, die Frage zu beantworten, wie das Leben an diesem Ort am lebenswertesten sein kann.

Wenn wir uns im historischen Rückblick die Entstehung unserer kapitalistischen Industriegesellschaft ansehen, dann sehen wir eine historische Dynamik am Werk, die der heutigen nicht unähnlich ist. Die Kräfte eines alten Systems haben die Keimformen einer neuen Gesellschaft entwickelt. Unsere Wirtschaft geht zurück auf die Bedürfnisse feudaler Fürsten, stehende Armeen zu unterhalten. Deswegen wurden Gemeinschaftsweiden eingezäunt, Bauern vertrieben, Manufakturen privilegiert, wegen der hochherrschaftlichen Bedürfnisse nach dem Reichtum der Nationen, der sich durch das Wachstum der Warenwirtschaft am besten vermehren ließ. So wuchsen unsere Städte, die Verwaltung, so entstanden zentrale Staaten, Bürokratien, Regeln und Gesetze. So lernte sich der Mensch in einem neuen Rahmen zu verstehen, so wurde er letztlich zum selbstbewußten Individuum, das am gesamtgesellschaftlichen Verkehr teil hat. Die Kräfte des Ancien Regime förderten diesen gesellschaftlichen Verkehr genauso wie sie von seinen Konsequenzen nichts wissen wollten.

Heute ist es die globalisierte Wirtschaft, die uns paradoxerweise immer mehr Mittel in die Hand gibt, einen selbstverantwortlichen und selbstorganisierten Lebensraum zu gestalten. Die Entwicklung hat sich seltsam umgekehrt, vom expansiven Überschreiten von Grenzen hin zum Gestalten nach Innen, in unseren Lebensraum hinein. Dieser Lebensraum ist mehr denn je Resultat unserer bewußten Wahrnehmung von Möglichkeiten, unserer Fähigkeit die Dinge wieder zueinander in bezug zu setzen, zusammenzusetzen. Diese Wahrnehmung steigt mit der Verfügbarkeit globaler Kanäle zu Wissen, Diensten, Informationen und Werkzeugen, die uns von allen Seiten aufgedrängt werden von längst schon redundanten Anbietern, die um einen immer kleiner werdenden Kuchen von Zahlungsfähigkeit Gefechte von enormen Dimensionen veranstalten. Könnte es sein, daß wir, anstatt uns an diesen Gefechten zu beteiligen, Lebensräume gestalten wollen mit dem vordringlichen Ziel, die Wirtschaft nicht mehr in jeder Alltagssituation zu brauchen, sich von ihr nicht mehr stressen zu lassen?

Hier zeichnet sich die Kontur einer fundamentalen Auseinandersetzung ab, die nicht nach einem Schwarz-Weiß Schema verläuft, sondern in der die Fronten oft sehr überraschend sind. Alvin Toffler hat ja in seinem Buch von der “Dritten Welle” davon geschrieben, daß eine neue Art von Wirtschaft entsteht, die sich auf die zunehmende Eigentätigkeit und Selbststeuerung der Menschen einstellt, nicht nur von Individuen mit ihrer Heimwerkermentalität, sondern auch von Gemeinschaften. Davon ist heute nicht mehr (oder noch nicht) viel zu spüren, die Wirtschaft sieht durch diese Eigentätigkeit ihre Felle davonschwimmen und hat sich zur Konterrevolution organisiert, nimmt immer mehr die Züge des alten Feudalherren an, nur daß diesmal nicht das Benutzen von Grund und Boden zum Ausgangspunkt einer persönlichen Abhängigkeit gemacht wird, sondern daß vielmehr die Bezollung des Lebensgrundes menschlicher Zusammenarbeit und Eigentätigkeit im Zentrum des Interesses steht, der Kultur. Eine freie Sphäre allgemeinverfügbarer geistiger Güter wird zugleich erzeugt und bekämpft.

Die Informationsgesellschaft und ihre auf Mikroelektronik basierende Technologie ist sowohl in der Richtung der extremen Arbeitsteilung, als auch in der Richtung der Reintegration von Arbeitsvorgängen offen. Sie kann im Prinzip die bisher getrennten Arbeitsvorgänge wieder integrieren und schafft die Möglichkeit der dezentralisierten Hausarbeit, des "ganzen Hauses" der traditionalen Gesellschaften in neuer Form. Marshall McLuhan hat diese Möglichkeiten sogar als “Stufenfolge der elektrischen Medien” beschrieben. Nach der zentralisierenden Industrialisierung folgt die dezentralisierende Automatisierung. Und während es, so McLuhan, der Industrialisierung und ihren Fabriken komplett egal war ob die große Arbeitsmaschine Cornflakes oder Cadillacs ausstieß, kehrt der mikroelektronische Produktionsvorgang genau dorthin zurück, wo das Produkt benötigt wird, in die Lebenswelt. In manchen Bereichen ist das schon Wirklichkeit: der Photodrucker ersetzt das industrielle Ausarbeitungslabor oder die Druckerei. Es könnte sein, daß die globalisierte Wirtschaft fühlt, daß sie einen Konterpart erzeugt hat, der sich so leicht nicht zur abhängigen Variable degradieren, der sich nicht so leicht kontrollieren und steuern läßt, der seinen eigenen Gesetzen folgt. Es könnte sein, daß die neue Gestalt, die das Leben hervorbringt, ebensowenig ohne diese globalisierte Wirtschaft existieren würde wie die Wirtschaft ohne die alten Feudalherren und Fürsten, die den Reichtum der Nationen in ihrem privaten Genuß und ihren endlosen Fehden verprassten, bis die neue Gestalt, zunächst unmerklich und ohne Selbstbewußtsein, sich zu artikulieren begann und schließlich auch das Ganze erfaßte, als das Alte seltsam dominant und unwirklich zugleich wurde.

Diskussion

UweChristianPlachetka: Dass die Realität der Theorie entgleitet, ist immer wieder passiert - die Fähigkeit damit umzugehen, ist so ziemlich der Motor des menschlichen Fortschrittes. Weitere Kommentare, wenn ichs genau gelesen habe - der Text ist kein intellectual fast-food