Willkommen im Globalen Dorf / 35-Wo Ist Noch Sicherheit |
||||||||||||||||||||||||
Home Neues TestSeite DorfTratsch Suchen Teilnehmer Projekte GartenPlan DorfWiki Bildung+Begegnung DorfErneuerung Dörfer NeueArbeit VideoBridge VillageInnovationTalk AlleOrdner AlleSeiten Hilfe Einstellungen SeiteÄndern |
˧
[ <Sendung 34] ............. Sendung 36> ˧
Hier ist Franz Nahrada aus Bad Radkersburg. ˧ In der letzten - technisch etwas verunglückten, prekären und schnell gestrickten - 34. Sendung hab ich über den prekären Umstand meiner Depression berichtet, und dabei auch sehr persönliche Themen berührt - wie gesagt auch mit Freunden, die mich besucht haben.... Es sind daraufhin viele positive Zuschriften und Reaktionen von Freunden und Fremden gekommen. ˧ Freilich musste ich auch erfahren dass ein solcher Akt des coming out nicht unbedingt dazu beiträgt, das zugrundeliegende Problem zu lösen. Den kurzfristig auflodernden Strohfeuern der Sympathie steht die natürliche und begreifliche Tendenz der Menschen entgegen, sich von Menschen mit Problemen eher fernzuhalten. Umgekehrt fällt es mir schwerer auf in diesem Zustand Menschen zuzugehen. Und die resultierende Beziehungsarmut hat die Tendenz sich wie ein Teufelskreis selbst zu verstärken. Lediglich einige wenige Freunde lassen nicht locker und melden sich immer wieder - Gottseidank! ˧ Wie auch immer, ich versuche dennoch ein follow up zu machen, auch wenn ich dieses mal wie das letzte Mal nur mit einem Bruchteil von Zeit und Aufmerksamkeit und wiederum fast nur in letzter Sekunde daran arbeiten kann. ˧ Vieles ist das letzte Mal offen geblieben, vieles ist in der radikalen Infragestellung und den Selbstzweifeln unaufgelöst. ˧ Vielleicht beginne ich mit der persönlichen Situation. Die rätselhafte Krankheit Depression ist nicht von meiner Seite gewichen, die Suche nach einem Biotop der Heilung hat mich wie angekündigt zeitweise in die Klause verschlagen, einem wunderschönen Biobauernhof der von einer Medizinerfamilie hier in der Südoststeiermark betrieben wird. Die Quintessenz der wenigen Tagen die ich dort verbracht habe: ich fand einen visionären Versuch, ein integrales Klima der Gesundung zu schaffen, das intensives Naturerleben, Ernährung, Bewegung, Körperempfinden und viele andere Faktoren miteinschließt und all dies mit medizinischer und psychologischer Betreuung kombiniert, und es ist zu bedauern daß es als Referenzmodell wenig bekannt und wenig diskutiert ist. ˧ (Intromusik Ende) ˧ Freilich stößt so ein Versuch, wenn er aus privaten Mitteln und unter dem Vorbehalt sich direkt ökonomisch tragen zu müssen, betrieben wird, auch was die Bandbreite der Möglichkeiten betrifft an Grenzen. Das betrifft sowohl die Anzahl derer, die überhaupt eine solche Einrichtung, die weder von Krankenversicherung noch Privatversicherungen unterstützt wird, in Anspruch nehmen können als auch die Vielfalt, Intensität und Integration der therapeutischen Angebote, die bei einer so kleinen Einrichtung notwendigerweise nicht allen Bedürfnissen gerecht werden können. Freilich zeigt das Beispiel Green Care, das auf einem weniger anspruchsvollen Niveau eine intakte landwirtschaftliche Struktur mit Betreuungsangeboten für verschiedene Zielgruppen verbindet, dass hier einiges in Bewegung geraten ist und wahrscheinlich Spezialisierungen und Weiterentwicklungen zu erwarten sind. ˧ Doch wie gesagt, hat sich auch in so einem an sich günstigen Millieu meine Depression nicht verabschiedet. Ich denke das hat einfach damit zu tun, dass ich mehr mit den unaufgelösten Widersprüchen meiner eigenen Existenz konfrontiert bin als jemand der in einen klassischen Burnout geraten ist. ˧ Ich habe meine ganze Lebensenergie und materiellen Mittel in den Versuch gesteckt, in einer ländlichen Region die von mir empfundenen Möglichkeiten der kooperativen Entwicklung zu realisieren, und habe dabei eine Lebenssituation geschaffen die aus meiner subjektiven Sichtweise auf jede Menge Versäumnisse, Irrtümer und Fehler meinerseits, aber auch als etwas was von mir von mir Verständnislosigkeit und Desinteresse bei anderen empfunden wird. Daraus entsteht für mich eher der Impuls und das Bedürfnis der Reflexion, des Gespräches, der Auseinandersetzung, in welcher Form auch immer, und das geht eben weit über das Setting eines Rückzugsortes hinaus. Dass diese Reflexion wegen des oben beschriebenen Teufelskreises kaum stattfindet, ändert nichts an der Tatsache dass ich in der Stille keine Ruhe finde. ˧ Ein bekannter slowenischer Seelenarzt der mich dankenswerterweise diese Woche besuchte hat es auf den Begriff gebracht: Ich habe mit einer klassisch städtischen Denk- und Handlungsweise mich blind in kleinstädtisch - ländliche Umstände gestürzt, deren innere Dynamiken den von mir gesuchten Diskurs gar nicht Raum geben können. Zu gut und zu eingespielt sind die sozialen Verflechtungen, zu drängend sind die tagesaktuellen Fragen der Lebensbewältigung, als dass man sich mit ergebnisoffenen Diskursen mit scheinbar was die Lebenswelt betrifft Ahnungslosen über bessere Möglichkeiten und mögliche Zukünfte aufhalten könnte. ˧ Diese Diskurse, wenn sie denn stattfanden, haben in besseren Zeiten maximal als unterhaltsame und folgenlose Denksportübung gedient. Gerade die Aussicht auf eine wirkliche Krise, wie sie in den letzten Jahren und Monaten schlagartig in unser Leben getreten ist, verengen das Denken auf die Orientierung an den Vorgaben und Spielräumen, die nun einmal durch politische und wirtschaftliche Strukturen gegeben sind. Und das gilt eben auch und besonders in den ländlichen Regionen, in denen verlässliche Beziehungen immer schon das wichtigste Überlebensmittel gewesen sind und das Fremde, Neue immer auch den Ruch des Bedrohlichen hatte. ˧ Und dann muss ich das alles auch wieder relativieren, wenn ich denke wie stark auch in dieser Region Menschen mit dem außen, mit der Welt verbunden sind. Gerade während ich diese Sendung schreibe, schlage ich zufällig das Radkersburger Pfarrblatt auf, und folgende Sätze springen im Editorial von Pfarrer Thomas Babsky mir geradezu entgegen: "Unsere Zeit wird überwiegend und auf vielfache Weise virtuell....all das bietet neue und fast unglaubliche Möglichkeiten das Leben zu gestalten ....Auch im Glaubensleben bieten sich bunteste Möglichkeiten ....Statt das Leben und bestimmte Personen auszuhalten, dürfen wir Leben und Glaubensvollzüge mit dem Gebrauch virtueller Möglichkeiten an unsere persönlichen Bedürfnisse anpassen ! Mit Hilfe des Internets nehme ich an einem äußerst regen bereichernden eucharistischen Leben in Argentinien teil!" und er berichtet von der Präsenz und der üppigen Musik die er da empfindet. Oder von der Möglichkeit in Mejugorje oder Heiligenkreuz die Sonntagsmesse zu besuchen. Und ich denke mir: Hallo, hast Du da was versäumt? Sie empfinden doch irgendwie schon als Globaldörfler, und was sie daraus machen ist ihre Sache, nicht Deine! ˧
Ja, damit habe ich die Hoffnung verbunden, dass ein Wandel heraus aus den eingespielten Wegen der Kultur(en) von Wettbewerb, Autorität und Hierarchie, die jeden dazu nötigen sich ums eigene Fortkommen zu kümmern und daran Loyalitäten und Kooperationen zu knüpfen, zugunsten einer wirklich Potentiale entfaltenden und Lebendigkeit bewirkenden Kultur erwachsen könnte. Daß das Teilen mit der Welt unser erstes Lebensbedürfnis wird, dass wir im scheinbar Fremden eben tatsächlich eine Bereicherung sehen. So wie ich es mir vorgestellt habe, und alle die diese Sendung hören haben eine Ahnung davon, lässt es sich aber weder erzwingen und ist zumindest kurz- und mittelfristig nicht einmal wahrscheinlich . Umgekehrt gewinnen kleine Schritte eine ganz andere Bedeutung. Ist jede praktische Synergie wertvoller als noch so viel Theorie. Das bedeutet Unsicherheit auszuhalten, auch wenn es sich bitter anfühlt. Und das ist auch schon der ganze gedankliche Inhalt dieser Sendung. Denn ich muss mir ganz fundamental die Frage stellen: ˧
Musik: Uncertainty ˧ Für mich persönlich hieße das, entweder vor Ort mit einigen wenigen Menschen ganz kleine, aber nahrhafte Brötchen im übertragenen Sinn zu backen, und wenn ich das nicht kann oder mich das nicht befriedigt, zumindest partiell mich wieder auf die (oft städtischen) Millieus zuzubewegen, in denen die fundamentalen Fragen zumindest diskutiert werden können. Aber oft eben in ideologischen, lebensfernen Formen, die mich ja zurecht nicht befriedigt haben. Hätte ich da was mitzubringen? ˧ Für die Theorie und Praxis der Globalen Dörfer ergeben sich natürlich auch aus diesem persönlichen Misserfolg mögliche Lehren, zum Beispiel wird es wichtig sein die Aspekte der Telepräsenz und der wirklichen, physischen Präsenz noch viel stärker zu verbinden. Sprich: Nur das kann auf Distanz wirksam werden, was zugleich schon im lokalen System verankert oder damit stark verbunden ist. Das gilt es sich hinter die Ohren zu schreiben und das wird ja durch dieses Kirchenbeispiel herrlich illustriert. ˧ Ja: schon die Konsequenzen in meiner kleinen Lebenswelt zu ziehen und die unhaltbaren Elemente meiner Basis zu korrigieren würde mich normalerweise schon sehr sehr fordern. Im Moment bin ich dadurch weit überfordert, weil die Fähigkeit der Entscheidung und Konzentration wie beschrieben in der Depression stark reduziert ist. Ich habe auch die Entdeckerfreude und die Lust am Neuen weitgehend verloren, die mich am Leben hielten und meinem Leben Sinn gaben. Und wie gesagt, es ist ein selbstverstärkender Teufelskreis, der hier am Werk ist. ˧ All das wird aber noch überlagert von einem ebenso starken Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, das entsteht wenn ich mir anschaue, was in der großen Welt passiert. Schon jetzt können wir von der ersten umfassenden globalen Erschütterung sprechen, die die 68er Jahre bei weitem in den Schatten stellt und deren Resultate Unsicherheit und Umwertung aller Werte sind. Insbesondere die Fortschritte der Eskalation von Krieg und Propaganda in den Medien sind atemberaubend - sowohl was die Fakten als auch was die Maßstäbe ihrer Interpretation anbelangt. Dann stelle ich mir erneut die Frage, was noch von der Möglichkeit einer Graswurzel - Globalisierung übrigbleibt wenn die geopolitischen Blöcke ihre Konfrontation bis an die Schwelle des atomaren Armageddon fortsetzen und innerhalb der Gesellschaften einfach alles und jedes für den Wettbewerb des wechselseitigen Kaputtmachens in Anspruch genommen wird. ˧ Es war ein kleines Wunder dass ich noch beim Schreiben dieser Sendung - am Ende der dritten Oktoberwoche 2022 - eine Skype Verbindung zu meinem russischen Freund Gleb Tyurin herstellen konnte. Er ist schon vorgekommen als ein Pionier der Dorferneuerung und Regionalisierung in Russland, und wir beide haben gute 20 Jahre der Kommunikation über die Möglichkeiten einer friedensstärkenden Regionalisierung und Dezentralisierung von Ökonomie und Politik in Ost und West hinter uns. Er zeigte mir eine Präsentation, mit der er auf einem Managementforum in St.Petersburg für die strategische Orientierung auf lokale Wirtschaftskreisläufe zu intervenieren gedenkt, und ich fühlte wie viele Menschen hüben wie drüben auch heute immer noch intensiv über friedliche Entwicklungswege nachdenken, jenseits von Sanktionen und Vergeltungen. Ich zeigte ihm die schönen Visionen von Shosanna Zuboff, die einstmals die "Support Economy" aufdämmern sah, also eine Wirtschaft die Autonomie und Entfaltung von Individuen und Gemeinschaften fördert, um nach 2 Jahrzehnten ernüchtert bei der Konstatierung eines stattdessen aufgewucherten "Überwachungskapitalismus" zu landen. Vielleicht wären diese alten Ideen genau das, was heute in Russland gebraucht würde? ˧ Ich treffe Michael Narodoslawsky aus Paldau, emeritierter Professor für Verfahrenstechnik an der TU Graz, der nicht nur unsere Projekte zu lokaler Bildung und Globalen Dörfern gefördert hat, sondern der auch zu jenen zählt, die ich wirklich seit Jahrzehnten als Freunde betrachten darf und der mich in Radkersburg besucht. Wir sprechen nicht nur über meine Optionen, sondern auch über die Weltlage. Seine optimistische Sichtweise der Dinge erstaunt mich. Ich dürfe das abrupte Abreißen mancher Projekte nicht als Scheitern betrachten. "Im Moment ändert sich sehr viel, und viel Wandel kommt von selber" sagt er und widerspricht mir implizit, während ich aber auch an Pfarrer Babsky denken muss. Neue Generationen seien am Werk und entwickeln ihre eigenen Visionen - und für unsereinen sei es eher eine Zeit der Retrospektive und Analyse. Sowohl im kleinen regionalen Rahmen als auch weltweit. Negative Rahmenbedingungen würden mehr als alles andere gesellschaftliche Entwicklungen transformieren. Er sieht einen Umbau am Werk, von dem 75% positiv einzuschätzen sind. Als ich ihn nach Beispielen frage zählt er vieles auf, die Pandemie habe der marktradikalen Ideologie die Grundlage genommen, habe nach Anfangsschwierigkeiten funktionierende supranationale Kooperationen zur Regel gemacht. Auch die Ukrainekrise sei letztlich unvermeidbar gewesen, denn schon die Einleitung des industriellen Umbaus in Europa habe die Geschäftsgrundlage der russisch-europäischen Beziehungen langfristig in Frage gestellt und der Krieg sei eher die Folge davon. Die Globalisierung sei an ihr Ende gekommen und eine regionale Kontextualisierung der Industrien würde sich mehr oder weniger zwangsläufig ergeben. Und er sagt vieles mehr, was ich aus seiner Sicht verstehe, was ich aber mit einem großen Fragezeichen versehe. Hat nicht die Pandemie gezeigt wie autoritär mit Unsicherheiten umgegangen wird? Und ist die Art wie der Frieden auch von westlicher Seite aufgekündigt wird, koste es was es wolle, nicht ein Rückfall in ein neues 1914? ˧ Ich sehe vielmehr ein Grauen auf uns zukommen, auf der weltpolitischen Bühne hat sich gerade eben, Ende September 1922 jede Hoffnung auf ein Ende oder eine Umkehrbarkeit zerschlagen. Die von einem Stakato wilder Beschuldigungen begleitete Sprengung der North Stream Pipelines, und umgekehrt die Verwandlung ukrainischer Gebiete in sakrosantes russisches Territorium, all das drückt nur die Beschleunigung der Gewaltspirale aus, deren Erschütterungen zunehmend überall spürbar werden. Alles was noch Basis für Einigung und Rückkehr zum Status Quo Ante hergegeben hätte, wird von den beteiligten Subjekten oft genug im Wortsinne zielsicher demontiert. Man braucht nicht depressiv zu sein, um die zunehmende Ausweglosigkeit zu spüren, die die Parteigänger von Frieden und Verständigung und Verhandlung erfahren. Parallel dazu vollzieht sich eine massive Gleichschaltung der Narrative, die noch von wenigen Jahren unvorstellbar war oder Gegenstand von Witzen wie "den Frieden hat alweil der Feind verdurm" (Werner Pirchner). Zunehmend wird aktive Parteinahme wenn nicht sogar Begeisterung für Krieg und Sieg der richtigen Seite eingefordert, und gerade die deutsche Politik macht hier den Vorreiter, während Österreich immer noch den scheinheiligen Luxus eines ein wenig unbeteiligt-sein-dürfens und doch fest auf der richtigen Seite stehen kultiviert. An Belegen und Begründungen fehlt es nicht mehr, wo Wahnsinn der einen Seite Wahnsinn der anderen Seite gebiert. ˧ Ein so wie ich weniger optimistischer Beobachter des Zeitgeschehens ist der steirische Intellektuelle Gero Jenner, dem ich knapp vor der Corona Krise im Forum Stadtpark begegnet bin, und mit dem ich zwar eine fundamentale Meinungsverschiedenheit bezüglich der Natur staatlicher Herrschaft habe, dessen Kommentare zu den Fortschritten der Weltlage dennoch immer wieder ins Schwarze treffen. Auf seiner Internet Seite gerojenner.com schreibt er: "Die Lunte zischt. Sie wird nicht wieder verlöschen, selbst wenn die Welt den Krieg in der Ukraine und die Bedrohung Taiwans übersteht." Hinter den ideologischen und gesellschaftspolitischen Differenzen sieht er eine anthropologische Konstante: "Jede starke Gemeinschaft, die sich Vorteile davon erhofft, eine schwächere zu unterjochen, hat diese Gelegenheit stets ergriffen.... Wird unsere Welt also allein vom Recht des Stärkeren beherrscht? Nein, das ist glücklicherweise nicht der Fall. Innerhalb einer Gemeinschaft kann sich das Recht auf gleiche Chancen für alle entfalten – bis hin zur Annäherung an ein ersehntes Ideal. Nur zwischen ihnen herrschte und herrscht bis heute der Sozialdarwinismus" [1] ˧ "Freiwillig haben Staaten nie die eigene Identität, Regierungen nie die eigene Macht aufgegeben, doch genau dazu wurden sie die letzten zehntausend Jahre immer wieder gezwungen. Denn im Großen und Ganzen hat sich die Geschichte nur in die eine Richtung der Vergrößerung und Einverleibung bewegt: aus Familien wurden Sippen, aus Sippen Stämme, aus Stämmen Nationen und Staaten, aus diesen gingen Staatenbündnisse hervor. Anders gesagt, immer wenn Menschen so dicht aufeinandersaßen, dass sie sich wechseitig als Bedrohung empfanden, wurde dieser Mechanismus ausgelöst und hatte zur Folge, dass die Einheiten, in denen sich Menschen organisierten, zunehmend größer wurden." [2] ˧ "Der zweite unidirektionale Prozess besteht im technischen Fortschritt. Dieser aber bildet einen, nein, er bildet den wesentlichen Bestandteil der Selbstdefinition moderner Staaten. Der Fortschritt der Technologien kommt aus den Laboren und Universitäten und ändert auf weitgehend ungeplante und – auch unplanbare – Weise die Mittel und Instrumente, die dem Militär dann zu eigenen Zwecken zur Verfügung stehen. Kein Einzelstaat ist in der Lage oder auch nur willens, die dadurch bewirkte permanente Störung des Gleichgewichts zu begrenzen. Im Gegenteil, jeder hofft dadurch so große Vorteile zu gewinnen, dass er seine Machtsphäre gegenüber dem Gegner erweitern oder sie neu definieren kann. Putin rühmt sich, überschallschnelle Raketen zu besitzen, die kein westlicher Staat abwehren könne; die USA sind vermutlich in der Lage, in einem hybriden Krieg die gesamte Infrastruktur des Gegners lahm zu legen." [3] ˧ und weiter: ˧ "Wer was zuerst tat, scheint angesichts der grundsätzlich instabilen, sich immer von neuem aufschaukelnden Lage, wenig bedeutsam. Entscheidend für diese Instabilität ist der unidirektionale technische „Fortschritt“, der sich nicht überwachen lässt und kein andauerndes Gleichgewicht ermöglicht. Dieser zweifelhafte Fortschritt sorgt inzwischen dafür, dass immer mehr Staaten – selbst Zwergstaaten wie Nordkorea – die Endzeitwaffe erwerben. Seit einem dreiviertel Jahrhundert sitzt die Menschheit auf einem Pulverfass, das sie selbst mit größtem Eifer immer weiter füllt.[4] ˧ Jenners Schlussfolgerung und seiner Weisheit letzter Schluss ist natürlich dass diese Tendenz erst nach großen Katastrophen vielleicht, irgendwann, zu einer planetaren Ordnungsmacht führen wird. Wieso es der technische Fortschritt an sich haben soll, immerzu Mittel der wechselseitigen Zerstörung hervorzubringen und nicht umgekehrt uns zurückführen kann in kleine selbstgenügsamere Lebenswelten die Wissen teilen und mitteilen, das bleibt unaufgelöst. Und ob nicht eine gesellschaftliche Evolution in Richtung Gewaltfreiheit immer noch und immer stärker abrufbar im kollektiven Bewusstsein hängen geblieben sind, genauso wie sich die Menschheit als Einheit und zugleich Bestandteil der Natur wieder wahrzunehmen beginnt. ˧ Und ja: Mit Sicherheit hat dieser Realismus die Kraft des Faktischen auf seiner Seite. Immer schon galt der Spruch "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" - wurden gesellschaftliche Ressourcen in großem Stil immer dann mobilisiert, wenn es um Destruktion ging. Egal ob es um die Geburt der Kybernetik aus der Flugabwehr ging oder die Entwicklung der Raketentechnik. Selbst das Internet ist ja aus der Anstrengung geboren worden, sich gegen feindliche Attacken auf die Kommunikationsinfrastruktur eines Landes resilient zu machen. Dennoch habe ich in früheren Sendungen von einem Gottesgeschenk gesprochen. Habe gezeigt dass fast alle technischen Innovationen auch die Möglichkeit in sich tragen, Dezentralität und Autonomie zu fördern. ˧ Sicherheit wie die Sache ausgeht - die von klugen Leuten schon so verschieden eingeschätzt wird - gibt es schlichtweg nicht. Die Lage eskaliert von Tag zu Tag - und gerade während ich diese Sendung schreibe hat die Biden - Administration den bislang schärfsten Akt in Sachen Kriegsvorbereitung gegen China unternommen, und zwar genau auf dem Gebiet des Wettbewerbes um technologischen Vorsprung: Der soll nämlich bewahrt werden, indem praktisch alle bestehenden amerikanisch - chinesischen Kooperationen von Technologieunternehmen im Halbleiterbereich sanktioniert werden. US-Bürgern droht der Entzug ihrer Staatsbürgerschaft, wenn sie sich an der Chip-Produktion in China beteiligen. Das soll die im Aufbau befindliche chinesische Chip - Industrie aus dem Geschäft katapultieren und wird von Kommentatoren als "wirtschaftliche Atombombe" bezeichnet. Ich denke das wird die Kontroverse um Taiwan - das ja immerhin einer der größten Halbleiterproduzenten der Welt ist - noch einmal kräftig anheizen und uns dem militärischen Kräftemessen auch in Asien näherbringen. Noch ist das ist nur eine Momentaufnahme aus der Welt der Geopolitik. Aber die Konsequenzen könnten entscheidend sein. ˧
Musik: Battleground
Ich mache einen großen Sprung. Da ist ein Gedanke der immer wieder in Erinnerung ruft, dass es sich bei all dem in Gang gesetzten Wahn nicht um einen eindeutigen und widerspruchsfreien Vorgang handelt, ein Element von Unsicherheit und Ambiguität verbleibt. Es ist mir über ein akustisches Recycling ein sehr visionärer Artikel der Zeitschrift OYA aus dem Jahr 2010 von ihrem Mitbegründer Johannes Heimrath wieder in Erinnerung gerufen worden, aus dem ich gerne ein wenig zitieren würde, weil es mir gerade so aus dem Herzen spricht. ˧ "Seit vierzig Jahren übe ich mich auf einem Weg, der mich Elemente einer lebensfördernden Kultur zu leben lehrt – in Gemeinschaft, als Unternehmer und kulturkreativer Akteur. Ich habe gelernt: Erstens, die Mächte, die den Globus beherrschen, sind nicht mit Gutmensch-Rezepten zu bändigen. Zweitens, ein konsequenter Ausstieg aus dem Kapitalfehler ist nur in gemeinsamer Anstrengung aller möglich. Solange sich aber die Grundmetaphern der dominanten Kulturen – »Macht Euch die Erde Untertan«, »Sieg des Kapitals«, »rechter Glaube«, »Herrschaft des Volks« … – nicht komplett ändern, gibt es nur Scheinausstiege......" ˧ Also bei aller grundsätzlichen Ähnlichkeit im Anliegen argumentiert er komplett anders als etwa Michael Narodoslawsky, der einen positiven Wandel am Werk sieht. Es kommt eben auch sehr auf die Perspektive an. Johannes schreibt weiter: ˧ "Anfang der 70er Jahre sammelten sich die ersten »Aussteiger«- Gemeinschaften. Mir blieb damals rätselhaft, wie wir – was alle propagierten – ohne Interaktion mit dem Mainstream diesen bewegen wollten. Sollte es wirklich genügen, durch bloßes Da-Sein den Hauptstrom so zu stören, dass er schließlich in »unsere« – heute: »lebensfördernde« – Richtung umschwenken müsste? ˧ Mit vielen Widersprüchen in der Praxis trotzten wir uns an den Rändern der Gesellschaft so etwas wie »Halbinseln des guten Lebens« ab, »Vorposten des Neuen« , »auf denen Produktionsweisen und Lebensformen ausprobiert und entwickelt werden, die auf eine veränderte Gesellschaft hinarbeiten, und von denen Boote mit neuen Denk- und Handlungsweisen auf den Ozean des institutionalisierten Irrsinns ausfahren, mit dem Ziel, die Seehoheit zu erringen«. Halbinseln sind es deshalb, weil auch die Heimaten der tapferen »Visionauten« am Kontinent »Fortschritt« hängen." ˧ "Es gibt sie heute überall, diese Halbinseln, nicht nur bei uns, wo man sie relativ komfortabel einrichten kann. Es gibt sie in allen Krisengebieten auf dem Erdball .... sie sind oft unsichtbar, häufig physisch bedroht, sie formieren sich im Untergrund oder im Exil, manche existieren nur in wenigen Köpfen, an anderen Orten befeuern sie die Demokratisierung ganzer Gesellschaften." ˧ und während der eine mit 75% positiv bilanziert, sieht Johannes Heimrath eine andere Realität: ˧ "Der bewusste Teil meiner Biografie entspringt der Utopie einer Welt, in der sich die Gaben des Menschen unverzerrt entfalten: sein Drang, gut zu sein, und seine Fähigkeiten, Schönheit und Gemeinwohl zu schaffen. Darin hat die zu einem »Superorganismus« (William Morton Wheeler, schon 1910) erwachte Menschheit das Potenzial zu einer egalitären, hochinspirierten und partizipativen Gemeinschaft aufgeklärt-herzensgebildeter Individuen, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen, die Erde als Schenkerin des Lebens achten und würdigen und sich selbst als weiterschenkende Wesen begreifen. Diese Utopie hat mich nicht am Versuch gehindert, die Qualitäten der Epoche nüchtern zu erfassen. Seit einiger Zeit zeichne ich bei Vorträgen, Workshops und Zwiegesprächen auf Flipcharts, in Notizbücher und auf Papierservietten nebenstehende kleine Grafik. Sie scheint mir die Weltentwicklung aus heutiger Sicht einigermaßen realistisch wiederzugeben. In vielen Dialogen ist ein differenziertes Bild von dem, was auf uns zukommt, gereift. Ich fühle die Größe der Chance, als Menschheit zu einem guten Leben zu finden. Und ich kenne die bei den Halbinselbewohnern gepflegten Illusionen über die Größe dieser Chance. Vielen Menschen machen die dargestellten Aussichten Angst. Ich selbst schöpfe Mut aus der Dynamik der Grafik." ˧ Soweit Heimrahts Bilanz. Ja und diese Graphik hat es tatsächlich in sich. Während die vertikale Achse "die Qualität der Welt im Sinn von Geordnetheit, Nachhaltigkeit und Balance, von Bildungs- und Entwicklungschancen und Minderung von Armut, Hunger und Krankheiten" repräsentiert", ist die Horizonale schlich ein Zeitstrahl. Und ja, die Entwicklung geht seit geraumer Zeit bergab. Übernutzung der Biokapazizät des Planeten ist da ebenso in Rechnung gestellt wie die Auswirkungen der menschgemachten Klimaveränderungen, Zerstörung menschlicher Lebensqualität und Lebensgrundlagen. Johannes Heimrath kritisiert die Halbherzigkeit mit der die Kosten der ökologischen Umbauszenarien verschwiegen wurden. Oder der Rebound Effekt. Und ja: damals, 2010 konnte noch niemand über die Beschleunigung der Zerstörung bescheid wissen, die die finale Konfrontation der Weltmächte zunächst in einem einseitigen Stellvertreterkrieg in Europa anrichten würde, denn auch in dieser Beziehung ist der Krieg der Vater aller Rückschritte und Rücksichtslosigkeiten, übersteigt sein Ressourcenhunger alle Maße. ˧ Damals sprach er etwas an was ich noch vor wenigen Monaten ganz stark in mir gefühlt habe und gerne wieder fühlen würde: ˧ "In dieser Lage wünsche ich mir, dass wir Halbinsulaner beginnen, uns vor allem der Frage zuzuwenden, wie die abgestürzte Menschheit überhaupt bis zu dem Punkt auf dem rechten Ast der schwarzen Kurve wieder aufsteigen kann. Wenn alle harten Fakten gegen uns sprechen, bleibt als einziges Werkzeug die Kraft der Vision. Das ist kein Konjunktiv, »es wäre doch toll, wenn …«. Die Kraft der Vision ist aktiv: Ich sehe, wie es dort und dann sein wird, und das nehme ich so stark in mich herein, dass meine Neuronen beim Durchleben der Vision feuern, als wäre alles real. Jedesmal verstärkt sich das Bild, ich übe mich darin, fühle, rieche, spreche, lache im Bild meiner Vision. Und allmählich erfahre ich die Rückkopplung der visualisierten Zukunft in der Gegenwart meines Alltags. Ich handle anders, ich bin verbunden mit den zukünftigen Auswirkungen meines augenblicklichen Tuns. Spüre ich in Zukunft einen Spaten in meiner Hand, dann fangen meine Augen an, die Gare des Bodens im Park auf dem Weg zur Arbeit zu prüfen, dann kostet mein Geschmackssinn schon heute das Aroma der Karotte, die ich aus dem zukünftigen Beet ziehe. Die Kraft der Vision wird zur Orientierung: Was brauche ich dann, was will ich retten, was ist vorbei? Wofür lohnt sich heute mein Einsatz? Wer sind meine Verbündeten? Was braucht eine nachhaltige Welt an Technik? Wie können wir sie schon heute lebensfördernd schaffen? Wie stellen wir sicher, dass sie »danach« lebensfördernd angewendet wird?" ˧ Wie gesagt, dieser Vision entspricht die selbstzerstörerische Grundcharakteristik des herrschenden Systems in keiner Weise, was aber nicht heißt dass sie nicht vereinnahmt wird. "Das gute Wollen der Halbinselbewohner hat ein Milliardengeschäft ausgelöst: Konsumgüterriesen verkaufen »grünen« Lifestyle, Automobilriesen Elektroautos, Energieriesen Solarzellen, »Social Business« hofft auf Gewinn mit gutem Gewissen." Grosso Modo wird so das langsame Siechtum des Systems durch palliative Maßnahmen lediglich verlangsamt, und in der Graphik wird die nach unten weisende Kurve lediglich ein wenig abgeflacht, endet aber doch in einem Kollaps. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios schätzt er auf 14%. Und dann kommts: "Das Ganze dürfte aber bereits so instabil sein, dass der Kollaps bis auf den Grund durchschlägt. Die ganz andere Welt wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent schrecklich aussehen. »Gewinner« werden die Führer der mächtigen Oligopole sein, die alle Zugänge zu den materiellen Ressourcen des Planeten besetzen." Und vielleicht ein paar versprengte Indigene, die noch in zufällig intakten Ökosystemen verwurzelt sind. ˧ Dass die Kurve sich wieder nach oben bewegt, dafür setzt J.H. die Wahrscheinlichkeit auf ein mageres Prozent, das aber auch nur dann besteht, wenn sich die neue Kultur illusionsfrei und jenseits aller Deklarationen und Agitation und Vereinnahmungsversuche auf ihre eigenen Grundlagen zu stelle imstande ist: ˧ "Setzten wir »Visionauten« nämlich die Kraft, die wir in großer Anstrengung in die Bekehrung der Anderswollenden investieren, ein, um alles zu lernen, zu erfahren, zu erarbeiten, zu üben, auszuprobieren, vorauszulieben, was wir in jener neuen Lebenswelt können, erleben, teilen und genießen wollen, und machten wir das auf dem Kontinent des Mainstreams bekannt genug, so dass es die täglich mehr werdenden Menschen mitbekämen, denen auch dort der Löffel in der Hand zu heiß wird und die nach den Halbinseln Ausschau halten, dann – ja dann könnte es sein, dass wir unsere gemeinsinnstiftenden Werte, unsere erprobten gemeinschaftlichen Lebensweisen und unsere ökologisch schmalfüßigen Verfahren und Techniken für eine die Lebensgrundlagen aller Wesen erhaltende, vielfältige Kultur als »Roadmap« vorschlagen dürfen, an der sich eine zutiefst verstörte Post-Kollaps-Menschheit neu orientieren könnte." ˧ Soweit die "Ein Prozent Theorie" von Johannes Heimrath aus dem Jahr 2012. Heute, am 21.Oktober 2021, hab ich kurz mit ihm telefoniert und er ist natürlich nach wie vor der Ansicht dass die Erfogsaussichten der Kulturkreativen Wandelbewegung trotz aller rhetorischen Tünche gering und die gegenwärtige Situation eben nichts anderes signalisiert als dass die destruktive Logik von Wachstum und Konkurrenz an ihr gewaltsames Ende kommt. Dennoch ist es für ihn und viele andere keine Option aufzugeben, sondern eher eine, die eigene Identität noch stärker praktisch zu wenden. Ein gutes Jahrzehnt später, im Herbst 2022, beschäftigt sich die Ausgabe 70 der Zeitschrift mit der Frage, "wo ist noch Boden unter unseren Füßen, auf dem wir stehen können?" ˧ An sich selbst will die Zeitung den Wandel von einem industriellen Presse - Erzeugnis zu einem wirklich subsistenten Element einer neuen Kultur vollziehen und so die Frage wo ist noch Sicherheit praktisch beantworten. ˧ "Wie wäre es, wenn in nicht allzu ferner Zukunft Oya vor allem an den Verteilstationen Solidarischer Landwirtschaftsinitiativen ausliegen würde? – Neben Möhren, Tomaten, Blattkohl und Sellerieknollen, neben Bohnenkraut, Rosmarin und Petersiliensträußen läge dann die jeweils saisonal gewachsene Oya-Ausgabe, so dass diejenigen, die neben ihrer Gemüsekiste auch ein Oya-Abo haben, ihr Exemplar an einer von mehreren Hundert Verteilstationen landauf, landab mitnehmen könnten. Wer dazu nicht in der Lage wäre oder Oya außerhalb der Reichweite eines solchen SoLaWi-Netzwerks erhalten wollte, könnte sich immer noch für die Zustellung per Post entscheiden. Oya findet statt ˧ Könnten wir den mit solchen gemeinschaffenden Verteilstrukturen verbundenen Koordinierungs- und Logistikaufwand überhaupt bewältigen? Würden die Hefte in den jeweiligen Regionen vielleicht gar per Lastenfahrrad ausgetragen? Würden jüngere SoLaWi-Mitglieder den älteren oder weniger mobilen Lesenden ihre Ausgabe mitbringen? Würden dadurch Netzwerke, Regionalgruppen, Freundschaften oder Lesekreise entstehen, die sich Oya nicht nur zu Gemüte führen, sondern die darin beschriebenen Praktiken des guten Lebens noch stärker als bisher hier und jetzt stattfinden lassen, einüben, verwirklichen würden? Gewiss, noch ist das Zukunftsmusik, aber das heißt nicht, dass es unmöglich ist. Wir laden dazu ein, solche Szenarien mit uns zu träumen, zu visionieren, vorauszulieben! Auch hier sind wir nicht auf der Suche nach einer perfekten Lösung, die für alle nur denkbaren Fälle passt, sondern wollen gangbare Praktiken des guten Lebens erforschen. Transformation geschieht, indem Menschen – wir, ihr, Sie – ihre Lebenspraxis in kleinen, großen, mutigen oder auch -zögerlichen Schritten verändern." ˧ Also es geht immer noch um Vision, aber diese transformiert sich pragmatisch: "Dort, wo es möglich ist, wollen wir künftig mit Ihnen und euch, liebe Lesende und Hütende, an Orten des guten Lebens ohne großen finanziellen Aufwand gemeinsam Sorge- und Subsistenzarbeit leisten: Haus-, Hof- und Bauwochen, bei denen gemeinsam ein Gemüseacker gejätet, ein Feld bestellt, Marmelade eingekocht, Holz für den Winter gemacht, ein Dach gedeckt oder ein Erdkeller angelegt wird. Den Anfang dazu könnte es im Sommer 2023 geben. Was ist nötig, damit diese Zusammenkünfte auch zu Schreib-, Denk- und Lernwerkstätten werden können? Wie können verschiedene Formen des Tätigseins mit Kopf, Herz und Hand zusammenfließen, sich ergänzen und bereichern? Wie können dabei auch Menschen einbezogen werden, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht an solchen Treffen teilnehmen können? Das sind Forschungsfelder, die wir mit diesen Begegnungsformaten erkunden wollen." ˧ Und Johannes Heimrath, ehemaliger Herausgeber und heutiger Rat von Oya, dass für ihn »die Kraft der Sprachlosigkeit« und die »Kraft des Aufhörens« gegenwärtig weit mehr Gewicht als die »Kraft der Vision« hätten die zuvor so eine bedeutsame Rolle gespielt hatte. »Aufhören« verstehe er nicht als »Aufgeben«, sondern als essenziellen politischen Akt, dem wie in dem obigen Ansatz skizziert ein offensives Moment innewohne. Es klingt fast so wie "Aufhören mit Kompromissen und Halbheiten". ˧ Und die Redaktion stellt die Frage, was es bedeuten kann, Kraft aus der Sprachlosigkeit zu schöpfen, ohne deshalb zu verstummen. Diese Sprachlosigkeit und die damit verbundenen Gefühle von Machtlosigkeit werden selbst zum Thema. ˧ Das möchte ich abschließend und beispielhaft an einem Artikel aus der jüngsten Ausgabe zitieren, die das Titelthema "Was gibt Sicherheit" trägt. ˧ Der Artikel "Eine neue Sicherheitspolitik" von Theresa Leisgang beschäftigt sich an vier Fallbeispielen aus verschiedenen Teilen der Welt die zeigen wie ein neues System im tagtäglichen Einsatz für Gesundheit, Nachhaltigkeit, Bildung, Entwicklungsmöglichkeiten etc. herausbildet, das so etwas wie Sicherheit stiftet. [5] ˧ "Sicherheit ist mehr als eine Frage von Krieg und Frieden. Um mich sicher zu fühlen, brauche ich zunächst ein Bett und ein Dach über dem Kopf, die Gewissheit, meine Miete zahlen zu können, etwas zu essen … Wenn Bomben auf die Heimatstadt fallen, ist das wohl die extremste Form von Unsicherheit. Gleichzeitig bedroht auch die Klimakrise diese Grundbedürfnisse – nicht erst in Zukunft, sondern schon heute, im nordrhein-westfälischen Ahrtal genauso wie im pakistanischen Sindh." ˧ "Statt mit dem alten System zu kämpfen, sorgen Menschen dafür, dass ein neues entsteht, in dem sie sich geborgen fühlen. Denn in einer Welt voller Unsicherheit ist nur eines sicher: Der Wandel kommt, ob wir wollen oder nicht. Noch können wir ihn gestalten." ˧ "Psychologische Studien aus der Traumatherapie zeigen, dass eben jenes Gefühl von Geborgenheit einen großen Unterschied im Umgang mit einer Krise machen kann. Wer sich im Kreis der Familie oder in einer Gemeinschaft von Freundinnen oder Gläubigen aufgehoben fühlt, kann Schicksalsschlägen anders begegnen. In einer von Krisen geprägten Welt wird das eine immer größere Rolle spielen. Denn Vieles, was bisher selbstverständlich erschien, ist nicht mehr sicher: sauberes Trinkwasser, eine intakte Gesundheit, die warme Dusche am Morgen." ˧ Die Umweltaktivistin Evelyn Payaguaje aus Ecuador steht stellvertretend für den Widerstand gegen die Zerstörung der indigenen Lebensgrundlagen in Ecuador. Sie sagt Sätze wie: »Wir Frauen haben mehr Charakter als die Männer«, und meint damit vor allem eine klare Haltung den Angeboten von großen Firmen gegenüber. Zu oft haben in der Vergangenheit Männer aus ihrem eigenen Dorf Jobs angenommen, die Teil des Problems sind: Sie haben sich als Kanufahrer für Ölexpeditionen angeboten, als Saisonarbeiter in der Raffinerie, haben das Land der Vorfahren an Palmölfirmen verpachtet – alles für die Aussicht auf ein kleines Monatsgehalt. »Aber was bringt dir Geld, wenn du krank bist?« Evelyn ist Gesundheit viel mehr wert als die scheinbare Sicherheit, die Geld bietet. Denn für sie ist nur eines sicher: Um Kranke in der Familie müssen sich die Frauen kümmern. Und dann bleibt weniger Zeit, um die Ölfirmen endlich doch noch zu stoppen. ˧ Der Physiotherapeut Riyaz Rawoot war Hüter einer Wasserquelle in Kapstadt. Er konstruierte eine Einrichtung die die Entnahme erleichterte. "Schwarze und Weiße, Arme und Reiche, Menschen aus den weitentfernten Townships und aus der eher wohlhabenden Nachbarschaft – sie alle kamen hier zusammen. Sie brachten Flaschen, Eimer und Kanister, halfen einander beim Befüllen; wer ein Auto hatte, nahm andere mit. Es wurden Tipps zum Wassersparen ausgetauscht und Freundschaften geknüpft. An der Newlands Spring lebte sie für eine Weile, die vielbeschworene »Rainbow Nation«, bis die Stadtverwaltung auf Betreiben einiger Nachbarn die Quelle stilllegte. ...Doch die Erinnerung an die Community-Quelle .. hat gezeigt, dass Menschen sich selbst organisieren können, ohne angesichts der Krise in Panik zu geraten." ˧ Laura Brämswig aus Berlin hat den Verein »Expedition Grundeinkommen« mit gegründet. Ein Grundeinkommen, so meint sie, erweitere den Rahmen, in dem Transformation überhaupt gesellschaftlich diskutiert werden kann. Laura Brämswig sagt: »Es gäbe plötzlich keine Diskussion mehr darüber, ob wir Kohlekraftwerke schließen können, weil die Angestellten nicht abgesichert sind.« Ein Grundeinkommen würde nicht nur die Zeit überbrücken, bis eine Region wie die Lausitz den Wandel geschafft hat. Es könnte auch die nötigen Kapazitäten in der Klimabewegung schaffen, um diesen Wandel überhaupt systematisch und langfristig zu organisieren. Daher sei es trotz aller Unzulänglichkeiten der vorhandenen Mittel wichtig, das was in großem Maßstab funktionieren soll, im Kleinen praktisch zu erproben, anstatt sich von vorneherein geschlagen zu geben. Ich muss unwillkürlich an unseren DorfUni Versuch denken, und was daraus geworden wäre, wenn wir ihn von vorneherein an praktische Voraussetzungen und Umsetzungsschritte gebunden hätten. Und vielleicht ist es ja auch nicht zu spät dafür? ˧ Ein letztes Beispiel der Verbindung von Aktivismus und Strukturaufbau im Artikel ist Dune Lankard aus Alsaka, der mit seiner Organisation »Native Conservancy« die indigene Jugend darin auszubildet, unzählige Aqua-Farmen zu bewirtschaften - auf der Basis von Kelp, also großen unterseeischen Algenwäldern. "Der Seetang bietet nämlich auch vielen anderen Organismen und Wasserleuten Unterschlupf – die ursprünglichen Kelpwälder sind absolute Biodiversitäts-Hotspots. Gleichzeitig speichern sie große Mengen Kohlenstoff, ohne Gefahr zu laufen, abzubrennen und das CO2 wieder freizusetzen. Dadurch könnten sie, wenn sie intensiver als Klimalösung eingesetzt werden, fünf bis zwanzig Mal so viel CO2 speichern wie Wälder auf derselben Fläche Land. Kelp-Farming zahlt sich also aus. Doch Dune sind nicht die Zahlen wichtig, sondern die Beziehungen, die hier entstehen und Stabilität schaffen, wenn alles andere ins Wanken kommt." ˧ Vier Beispiele aus beliebig vielen, die zeigen, dass es mmer wieder Optionen gibt, auch in verfahrenen Situationen Handlungsmöglichkeiten zu entdecken. Ich muss auch an ein Telefonat denken das ich unlängst mit Lorenz Glatz von der Munus Stiftung geführt habe, der mir geschildert hat dass gerade die Krise die Bereitschaft gefördert hat, dass Menschen die Entscheidung treffen ihre Häuser, ihren Grund und Boden für eine nicht marktförmige Nutzung zur Verfügung zu stellen und so ermöglichen neue Solidargemeinschaften zu bilden.... Jedes Aufhören kann zugleich ein Anfangen sein. Das muss ich mir selber jeden Tag vor Augen führen. Oft lenke ich mich von meinen dunklen Depressionsgedanken durch Schachspielen ab. Obwohl oder vielleicht weil es da recht martialisch zugeht, fasziniert mich immer wieder, dass im Schach neue Situationen neue Kräfteverhältnisse und Möglichkeiten hervorbringen. Das Vorrücken einer Figur verändert das Feld der Sicherheiten und Unsicherheiten. Vielleicht ist es ja in der Welt genauso, und vielleicht muss unser kritischer und unser visionärer Blick auch ergänzt werden durch den pragmatischen auf naheliegendes und zu kombinierendes. Ich hoffe dass nicht nur ich auf diesem Weg in einer Welt der rapide zunehmenden Unsicherheit doch noch ein wenig Boden unter den Füßen gewinne. Und nicht umgekehrt die Partie endgültig aufgebe. Und wer weiß, wieviel Gemeinschaftsenergie gerade jetzt und gerade durch so etwas wie den Mut der Verzweiflung geboren werden kann. Was wir zu verlieren haben sind ohnehin eher Illusionen von Sicherheit gewesen. ˧
https://freemusicarchive.org/music/Blue_Dot_Sessions/Glacier_Quartet/Uncertainty/ ˧ https://freemusicarchive.org/music/pawel-feszczuk/deadly-war/battleground/ ˧ https://freemusicarchive.org/music/lr-friberg/hope-prevails/hope-prevails/ ˧
| |||||||||||||||||||||||