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Tendenzen der Siedlungsgeschichte im ländlichen Raum.
Das Leben auf dem Lande birgt als "Leben in der Fläche" viele Strukturnachteile, wie z.B. große Entfernungen, eine dünne Siedlungsstruktur und eine erschwerte Mobilität, aber einen klaren Standortvorteil, nämlich eine räumliche Offenheit, ein weites Land, viel Platz. Platz zu haben ist der eigentliche Trumpf der Provinz. Ein "Platzsparen in der Fläche" erscheint daher auf den ersten Blick ein in sich unauflösbarer Widerspruch, eine jeglicher Logik zuwiderlaufende Forderung. Kein Wunder, daß es auf diesem Hintergrund die Kritik der Denkmalschützer am bisherigen ländlichen Bauen besonders schwer hat: "Fast überall hat man mit dem Argument, die zukünftige Entwicklung sichern zu müssen, überdimensionale Bauflächen ausgewiesen. Damit sind die exzessiven Bauorgien erst möglich geworden, die nicht nur die alte Beziehung zur Landschaft und Feldflur beeinträchtigt haben, sondern schließlich auch den Leerstand und Verfall der historischen Gebäude im Ortskern begünstigen. Warum darf man den Kindern der Dorfbewohner, die ihren Ort so lieben, daß sie unbedingt dort bauen wollen, nicht auch den Umbau historischer Gebäude zumuten ?" Der so gescholtene Dorfbewohner und Bauherr in spe kontert standortbewußt: "Auf dem Land hat es Platz, aber keine Arbeit. Warum sollte ich bei allen Benachteiligungen, die ich auf dem Lande habe, dann nicht diesen einen "echten Standortvorteil" der sich anbietet, voll ausnutzen ?" Und im Zeitalter der landwirtschaftlichen Flächenstillegungen und des ungezügelten Landschaftsverbrauchs im Osten und Westen erscheint die Forderung nach Flächenrestriktion geradezu anachronistisch. Dem geschlossenen historischen Dorfbild, dem projektierten Wunsch- und Leitbild der Dorfplaner, steht offensichtlich eine andere historische Erfahrung der Dorfbewohner zur sinnvollen Dorfentwicklung, nämlich die, daß das Wachstum der Dörfer mit einem Wachstum der Dorffläche einhergehen muß, scheinbar unversöhnlich gegenüber.
Wie jedes Bauernhaus nur ein "Original" für eine Epoche ist, nämlich für diejenige Generation, die es gerade nach seinen aktuellen Nutzungsansprüchen umgebaut hat, so ist das "historische Dorf" eben auch nur die historische Momentaufnahme eines Bauabschnittes seiner Geschichte. Das alte Agrardorf des 19. Jahrhunderts hat seit dieser Zeit mehrere kulturelle Erweiterungen, die sich auch in einer baulichen Expansion und stilistischen Vervielfältigung niederschlugen, erlebt. Dazu gehören in den Gründerjahren die Landarztvilla im Ortsmittelpunkt, das Jugendstil-Gebäude des lokalen Unternehmens neben der Fabrik, die "Rübenpaläste" der verbürgerlichten Großbauern, ebenso wie die einfache Arbeiterwohnsiedlung und die Schnitterkasernen am Ortsrand, der etwas außerhalb gelegene Bahnhof, die neuen Großlagerhäuser mit Gleisanschluß und die Kleinsiedlungen der Sommerfrischler am Südhang. Fortgesetzt wurde die ländliche Bauexpansion in den 1920er Jahren mit der Errichtung von Landarbeiterwohnungen, Neusiedlerstellen, Arbeitersiedlungen in Reihenhäuserformation, Wohn- und Werkstätten der neuen Handwerksberufe (Elektroinstallateur und Kfz-Mechaniker) auf dem Lande und dem Bau neuer Freizeiteinrichtungen, wie Vereinshäuser, Turnhallen und Sportplätze. Nach dem Kriege schoßen rings um die alten Dörfer die Neubausiedlungen der Flüchtlinge aus dem Boden. In den 1960er Jahren begann die nichtlandwirtschaftliche Dorfbevölkerung, die inzwischen stark angewachsene Zahl der Handwerker, Angestellten, Arbeiter und ländlichen Intelligenz, im sogenannten "Neubauviertel" neu zu bauen. Gleichzeitig wurden im Ortskern eingekeilte und daher nicht mehr expansionsfähige landwirtschaftliche Betriebe an den Ortsrand oder in die Feldflur ausgesiedelt. In den 1970er Jahren setzte eine regelrechte Flucht in die Neubauviertel ein. Das Neubauen wurde zum neuen Statussymbol auf dem Lande. Das neue Haus auf dem "Millionen-Buckel" Ausdruck des neuen ländlichen Wohlstandes. Und es wurde großzügig gebaut: 1 1/2 bis 2 1/2 stockige Mehrfamilienhäuser mit den eingeplanten "Kinderbesuchszimmern", mit protzigem Balkon und der obligatorischen Kellerbar. Die alte Bausubstanz in den Dörfern wurde als Altenteiler benutzt, an Ausländer oder Alternative aus den Städten der Umgebung vermietet, oder an die vom "echten Bauernhaus" schwärmende neue Kleinstadtintelligenzia verkauft. Oder sie wurde schlichtweg abgerissen, um die Parkplatznot im Ortskern durch neue Stellplätze zu lindern. Das Dorf hatte seinen Lebensschwerpunkt nach Außen verlagert: Das Wohndorf war das Leitbild der ländlichen Entwicklung geworden. Und dieser Trend ist ungebrochen: Das "Wohnen im Grünen" mit Blick auf die freie Landschaft ist nach wie vor der Traum deutsches Bauherrenglücks, auch wenn dieses heute nicht mehr ohne Fitness- und Wellnessraum, Sauna, Whirlpool, Gästezimmer und Gartenteich-Biotop auskommt. Die inzwischen überall zu findenden Massivholz-Blockhäuser und post-modernen Niedrigenergiehäuser sind lediglich die Ökovariante des gleichen Trends. Aber auch um das Dorf herum ging es munter in die Fläche: Der ortsansässige Kaufmann hat aus Existenzgründen ausgesiedelt und ist mit seinen Flachbau- Supermarkt nun endlich gut per Auto anfahrbar. Der Sportverein hat expandiert und neben dem Sportplatz, zwei Trainingsplätze, drei Tennisplätze und ein neues Sportheim errichtet. Die neue leicht-überdimensionierte Mehrzweckhalle gleich daneben ergänzt das Ganze zum neuen "social centre" im Dorf. Aber auch die Landwirtschaft brauchte neue Flächen: Für den neuen Maststall am Grüngürtel des Dorfes, für die mähdreschergerechte Maschinenhalle neben dem neuasphaltierten Dorf-Rundweg. Dies war die typische Dorferweiterung-West. Auch im Osten gab es seit 1945 massive, den alten Dorfgürtel überschreitende Bauerweiterungen: Angefangen bei den Neubauernstellen und Flüchtlingssiedlungen der 1940er Jahre, über die MAS- und MTS-Gebäude in der Feldflur, die 2-stockigen und später 4- stockigen Landarbeitermietshäuser in den Dörfern, bis hin zu den LPGStallungen, Lagerhäusern, Hochsilos, Maschinenhallen und Verwaltungsgebäuden am Ortsrand. Im sozial-nachgerüsteten Dorf der 1960er Jahre wurden Freiflächen mit den neuen Kulturhäusern, Einkaufzentren und Landambulatorien bebaut. Der seit den 1970er Jahren forcierte Eigenheimbau am Grüngürtel der Dörfer und der Datschenbau am südlichen Dorfhang, vergrößerte das Dorf, auch wenn im Osten der Nutzungskonflikt zwischen landwirtschaftlicher Nutzung und Bebauung zugunsten der Landwirtschaft viel restriktiver gehandhabt wurde und eine exzessive Bebauung des Dorfrandes auch aus Materialmangel heraus gebremst oder zeitlich gedehnt wurde. Der westliche Bebauungsdrang der Ortsränder trat im Osten erst seit der Wende ein und erscheint heute - angesichts des Überangebotes an ausgewiesener baulicher und gewerblicher Fläche - nahezu ungebremst. Angesichts dieser Entwicklungsgeschichte der Dörfer erscheint es wenig hoffnungsvoll, von einer Selbst- und Flächenbegrenzung im Bauen auf dem Lande zu sprechen. Die Entwicklung auf dem Dorf war historisch immer eine Einheit von räumlicher und sozialer Expansion. Mit dem Bauen sollte neuen Bedürfnissen Raum gegeben werden, sollten neue Freiräume zur Selbstgestaltung entstehen; die als negativ empfundene dörfliche Enge sollte durch die neuen Insignien sozialer Privaträume in Form des individualisierten Neubaus, mit großer Rasenfläche und distanzschaffender Außensprechanlage überwunden werden und die Sozialkontakte auf die gewollte Nähe eingestimmt werden; gleichzeitig sollten aktuelle Nutzungskonflikte, z.B. der klassische zwischen landwirtschaftlicher Nutzung und dem Wohn- und Ruhebedürfnis durch soziale Entflechtung - jeder enthält sein Dorfviertel - abgemildert werden. Alle diese lebensqualität-verbessernden Maßnahmen brauchten erneut Fläche und die schien im nicht-ballungsraumnahen Dorf ja reichlich vorhanden.
Die Ausdehnung im Raum, die räumliche und kulturelle Erweiterung ist Ausdruck von Modernisierung. Sie geht von der Erkenntnis aus, daß das "Erbe der Vergangenheit nicht nur ein Guthaben, sondern auch ein Ballast" (2) ist. Gegen die erdrückende Erblast dörflicher Rückständigkeit wurde - unterstützt durch den Zeitgeist der 1960er Jahre - geradezu bilderstürmerisch und gebäudeschleifend angekämpft. Die stehende Provinz sollte in Bewegung gebracht werden, das dunkle Dorf der schattigen Hinterhöfe durch Abriß belichtet werden (3), der Muff des Abgestandenen durch neue kulturelle Kleinklimata durchlüftet werden. "Dörfliche Borniertheit konnte nur aufgrund eines massiven Eindringensprozesses der Moderne, d.h. städtischer Kultur-, Lebens- und Konsumformen in die Provinz gelockert werden. Dies war, wie jeder Veränderungs- und Emanzipationsprozeß, auch ein Zerstörungsprozeß alter Lebensstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse, alter Häuser und Ortschaften, kindlicher Spiel- und Aufenthaltsräume. Mit den alten Möbeln wurden auch alte familiäre Abhängigkeitssymbole verkauft, mit dem Umbau der Häuser auch alte patriarchalische Geister vertrieben, mit neuen Einrichtungen auch ein Teil der neuen Identität möbliert. 'Neuwertigkeit' galt als neuer Wert, das Alte als antiquiert und wertlos." (4) Ganz nach der Parole von Peter Handke: "Such dir ein größeres Land. Zu einem Menschen gehört ein großes Land ! (5) wurde die Dorfenge überwunden. Platz sparen zu müssen galt im alten Dorf als Ausdruck von Armut. Diese war für viele Landfamilien in den 1970er Jahren überwunden. Deshalb wurde nun neu und größer gebaut, genauso wie es die Dorfreichen in der Geschichte vorgemacht hatten. Größere Häuser demonstrierten Wohlstand. Die Bebauung der Hügel mit Blick aufs Dorf ließ das Gefühl von "Burgherren" in den Neubaubesitzern aufsteigen. Aber auch in den Dörfern änderte sich der Zeittakt und das Lebensgefühl: Hohe kulturelle und räumliche Mobilität, selbstbestimmbare örtliche Nähe und Distanz, das Recht auf Unterschiedlichkeit und kulturelle Toleranz, der regionale Lebensradius, wurden zu Merkmalen der "Neuen Dörflichkeit" im heutigen "Regionalen Dorf" (6). Heute besitzt beinahe jedes Dorf diese in sich geschachtelten Dorf-Erneuerungs- und Erweiterungs-Ringe. Wie in einem architektonischen Lesebuch lassen sich an der Bausubstanz der Dörfer der Bauzeitpunkt, die Baumode und die verwendeten Baumaterialien studieren. 100 Jahre dörfliche Baukultur mit Mustergebäuden und Epochen-Siedlungen, mit einer Vielfalt von Bauvarianten, Stilrichtungen und Mischformen, macht gerade die kulturelle Vielfalt und Lebendigkeit des heutigen Dorfes aus. Für diesen stilistischen Reichtum hatte das Dorf mehr Raum gebraucht, als es das alte Dorf kulturell und baulich bereithielt. Und diesen Raum hat sich das Dorf genommen. Es hat sich "gehäutet", indem es die für seine Binnen- Modernisierung notwendigen eigenen Ausdrucksformen und Baustilmoden gewählt hat. Die bauliche Expansion war der notwendige "Fortschrittsraum" (Ernst Bloch), um den kulturellen "Laderaum" (Ernst Bloch) (7) der Dörfer zu vergrößern, sie an der sozialen Emanzipation der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Das Dorf mußte "in die Fläche gehen" um vom "Makel der Fläche", vom Image des "Armenhauses der Nation", des "dauer-kränkelnden Strukturschwächling" und der "hoffnungslosen Provinz" loszukommen. Dieser Schritt in Richtung Dorferweiterung und Dorfmodernisierung konnte gelingen, weil seit den 1970er Jahren die dafür notwendigen Ressourcen verfügbar waren:
Es hilft nichts dem alten, aus Not auf die kleine Fläche gebannten Dorf nachzutrauern: Die alte Gesetze dieser zusammengedrängten Siedlungsform, wie der Zwang zur Energieeinsparung, der Mangel an Baumaterialien, die große Armut, die soziale Schutzfunktion enger Bebauung, die Reservierung der Böden zur existenz-notwendigen Lebensmittel- und Futtermittelproduktion, gelten heute nicht mehr. Das zusammengekauerte, alte Dorf wäre heute nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch kulturell viel zu eng. "Es macht keinen Sinn, dem neuen Bild vom Land das des alten, geschlossenen Dorfes entgegenzuhalten. Das Leben im alten Dorf war in allen vorausgegangen Zeiten hart, eng und für die meisten seiner Bewohner ärmlich. Dennoch schafft die Auflösung der engen Dorfstruktur ein Problem. Das Dorf war aus Not der Garant eines sorgsamen Umgangs mit dem Boden und dem Vieh. Wie ohne Not dasselbe zur erreichen ist, darauf gibt es bisher keine Antwort." (8) Ist ein anderer, sorgsamerer und weniger verschwenderische Umgang mit dem Boden, in unserem Fall, mit dem zu bebauenden Boden, auf dem Lande heute überhaupt möglich und in einer ländlichen Strategie "flächensparenden Bauens" wirklich umsetzbar ? Ein Umkehrtrend zum heutigen flächenextensiven Bauen ist sicher dort zu erwarten, wo der Baugrund sehr teuer wird und die Umweltauflagen recht eng ausgelegt sind, im ballungsraumnahen Bauen. In den Dörfern um die Metropolen herum, wird die Verteuerung der Bauplätze zur fiskalischen Flächenbremse, die allerdings durch das vermehrte Bauen auf gleicher Fläche wiederum aufgehoben werden kann. In den Tourismusregionen wird über einen entsprechenden Ensembleschutz und strengere Bauauflagen sicher auch eine restriktivere Handhabung des Bauens in der Fläche erfolgen, ist die Siedlungslandschaft doch Teil eines anzupreisenden Wirtschaftsgutes und kann nur in einer intakten Form auch langfristig vermarktet werden. In den in der Fläche liegenden Dörfern wird der Gegentrend am schwierigsten zu erzielen sein, denn der Haupttrend zum offensiven Flächenverbrauch hält weiterhin an:
Hier wären intelligente Lösungen gefragt, um die untergenutzten Gebäude mit einer sinnvollen Nutzung wieder in Einklang zu bringen, soll der allgemeine Strukturwandel auf dem Lande nicht alle kleinen Bemühungen um ein ortsnahes, verdichtetes und flächensparendes Bauen immer wieder zunichte machen. Quelle: Pro Regio Online, Deutschland
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